Rätselhaft

 

In die psychologischen Untiefen der doch reichlich verworrenen, kruden Libretti von Bellinis Belcanto-Opern einzudringen, ist alles andere als einfach. In den letzten Jahren haben das der Regisseur Jossi Wieler gemeinsam mit dem Dramaturgen Sergio Morabito und der Bühnen- und Kostümbildnerin Anna Viebrock an der Staatsoper Stuttgart versucht. Nach Norma und La Sonnambula hatte I Puritani 2016 Premiere; von der Wiederaufnahme im Juli 2018 gibt es einen Mitschnitt, den Naxos als DVD herausgebracht hat. Das Regieteam lässt alles in einem Einheitsbühnenbild spielen, das einen feuchten Keller in der zentralen Puritaner-Festung im englischen Bürgerkrieg des 17. Jahrhunderts suggeriert. Die Puritaner werden wie eine Sekte als geschlossene, strenggläubige und frauenfeindliche Gesellschaft gezeichnet; zu Anfang und am Schluss stehen sie betend vor einer Wand wie die männlichen Juden vor der Klagemauer in Jerusalem. Außerdem sind die Choristen ständig in Bewegung und wischen sich vorgebliche Krümel von der Kleidung (Puritanisch kommt von purification = Reinigung!). Ganz am Ende scheinen auch sie alle etwas neben sich zu sein, wenn sie unter merkwürdigen, spastischen Zuckungen leiden. Auch sonst gibt es manch Unverständliches und auch Ironisierendes: So tritt Riccardo seinen Kampf mit Arthur mit einem großen Beil an, während dieser mit dem Schwert hantiert. Elvira scheint nicht erst dann wahnsinnig zu werden, wenn Arthur sie verlässt und sie vermeintlich betrügt, sondern sie wirkt von Anfang an geistesverwirrt. Ihr Onkel Giorgio soll wohl deshalb nicht als liebender Verwandter, sondern eher als Therapeut auftreten, wozu er dann einem großen Koffer eine Bauchredner-Puppe entnimmt, mit der Elvira später spricht, nachdem sie eine Lücke in die Wand geschlagen hat, in der dann die Puppe sitzt. Im 3.Akt steht ein nur mannshohes Haus, in das sich Elvira verkrochen hat, aus dem heraus sie und später auch Arthur singen, nachdem sie ihn dort eingesperrt hat – aha, Elvira spielt noch mit Puppen! Dass schließlich Riccardo Elvira im Finale II vergewaltigt, als Arthur mit Enrichetta die Festung verlassen hat, ist eine unnötige Übertreibung. Insgesamt gibt es an Rätselhaftem, bei dem man ständig die tiefere Bedeutung sucht, einfach zu viel

Damit nun aber genug. In hohem Maße befriedigend ist die musikalische Seite der Aufführung: Dafür schafft das ausgezeichnete Staatsorchester Stuttgart eine gute Grundlage, mit dem Manlio Benzi mit sängerfreundlichem Dirigat dafür sorgt, dass die dramatischen Effekte ebenso wirkungsvoll wie die schwelgerischen lyrischen Passagen zur Geltung kommen. Der Staatsopernchor (Christoph Heil) entwickelt trotz der vielen Bewegung ausgewogenen, prächtigen Chorklang. Gestalterisches und sängerisches Zentrum der Oper ist Elvira, die auf bedauernswerte Weise zwischen zwei Männern steht. Anna Durlovski stellt sie in den sehr unterschiedlichen Phasen  ihrer Verwirrtheit letztlich glaubhaft dar; dabei führt die mazedonische Sängerin ihren flexiblen, abgerundeten Sopran höhensicher durch alle Lagen, wobei ihr die Koloraturen und Verzierungen in schöner Klarheit glänzend gelingen. Elviras geliebter Arthur ist René Barbera, dessen leichter, ebenfalls sehr flexibler Tenor durch Intonationsreinheit und sichere Führung imponiert, wobei ihm die vielen Extrem-Höhen keine Probleme zu machen scheinen. Sein Gegenpart Riccardo ist der albanische Sänger Gezim Myshketa, der durch einen kräftigen, mächtig auftrumpfenden Bariton für sich einnimmt, wenn auch manche Koloraturen leicht verwischt werden. Im großen Duett mit Giorgio, zweifellos eins der musikalischen Highlights der Oper, verbindet er sich mit dem sonoren, schön auf Linie singenden Bass von Adam Palka, wofür beide völlig zu Recht tosenden Beifall zum Schluss des 2. Akts einheimsen. In den kleineren Rollen gefallen der füllige Mezzosopran von Diane Haller als Enrichetta, der bewährte Bass von Stuttgarts Urgestein Roland Bracht als Elviras Vater Lord Valton und der sichere Tenor von Heinz Göhring als Sir Bruno.

Trotz aller Rätselhaftigkeit der Regie ist die DVD vor allem wegen der niveauvollen musikalischen Umsetzung empfehlenswert (NAXOS 2.110598, 2 DVD).  Gerhard Eckels