Langweiliger Genderfluidismus

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„Warum vergessen wir?“, fragt die Erzählerin. Und unternimmt den Versuch, sich an eine Familiengeschichte zu erinnern, „alles begann 1598“. Sie sagt es natürlich auf Englisch, denn die wunderbar artikulierende und mit sanften Bewegungen das Gesagte anmutig umschmeichelnde italienisch-schwedische Sänger-Schauspielerin Anna Clementi ist in Olga Neuwirths Oper Orlando Sprachrohr der Schriftstellerin Virginia Woolf und gleichzeitig Schutzgeist von deren Orlando. Es sei für sie als Schriftstellerin ein Urlaub gewesen, sagte einst Virginia Woolf. Nie habe sie ein Buch schneller verfasst als ihr in einem „einmalig glücklichen Herbst“ entstandenes Hauptwerk Orlando. Ähnlich muss es Olga Neuwirth ergangen sein, als sie 2014 den Auftrag erhielt, der im Dezember 2019 zur ersten Uraufführung einer abendfüllenden Oper einer Komponistin an der Wiener Staatsoper führte. Im ausführlichen und sehr packenden Bericht im Beiheft der DVDs (2 DVDs Unitel 760708) erzählt sie, wie sie Woolfs Orlando bei der jugendlichen Suche nach weiblichen Vorbildern in der Kunst beeinflusste. Somit war der Stoff für die Wiener Oper rasch gefunden. Auch Inhalt, Aufbau, Art und Weise der Umsetzung scheinen sich rasch konkretisiert zu haben; Neuwirths Liebe zur Kalligrafie, „auch die Frage nach der Veränderung der Schreibmaterialien“ sowie der Vorgang des Schreibens werden von Regisseurin Polly Graham in ihrer artigen Bilderschau aufgegriffen. Vor allem wird die „fiktive musikalische Biografie in 19 Bildern“, wie Neuwirth ihr Werk nennt, zu dem sie zusammen mit Catherine Filloux das Libretto nach Woolfs Satire auf Geschlechterrollen geschrieben hat, von David Pountney-Mentee Polly Graham nach Art des britischen Sprechtheaters in praktikable, gefällige Bilder gefasst. Nebelumwaberte Blicke in die Landschaft, Wissenschaftskabinette, Doku-Theater und wohlfeile Appelle. Auf der Bühne überaus schlichtes Schultheater, das auf den Rück- und Seitenleinwänden Unterstützung durch die Videos von Will Duke erfährt. Dazu die eleganten Garderoben von Comme des Garçons, der vor allem in den 1980er und 90er Jahre als Avantgardelabel Kult geworden japanischen Marke, die den jungen Dichter und Edelmann Orlando, auf den Elisabeth I. ein Auge geworfen hat, in gefältelte Bänder, Spitzend und Samt hüllen. Rüschig ist die Inszenierung auch dort, wo ein kräftiger satirischer Zugriff und die Leichtfüßigkeit des Romans gutgetan hätten, etwa bei Orlandos Tee-Empfang für die Dichterkollegen Pope (Christian Miedl), Addison (Carlos Asuna), Dryden (Marcus Pelz) und Duke (Wolfgang Bankl). Mit Ausnahme der ansprechenden Kate Lindsey als Orlando, dem Countertenor Eric Jurenas als Guardian Angel und dem faszinierenden Bassbariton Leigh Melrose als Orlandos Kollege Green und Kriegsfotograf Shelmerdine lassen sich aus dem umfangreichen Ensemble nur schwer einzelne Figuren herauslösen.

Neuwirth hat für ihre „hybride Grand opéra“, die „als eine Fusion aus Musik, Mode, Literatur, Raum und Videos gestaltet sein muss“, alles bekommen. „von klassischen Sängern bis Cabaret-Sängern wie Justin Vivian Bond und singenden Schauspieler/ innen, …..bis zu einem Kinderchor, einem Männer- und einem Frauenchor, die klein besetzt sind, damit sie auch madrigalhaft singen können, einer jazzigen Bühnenband bis zu Geräuschmachern wie in der Stummfilmzeit, klassischer zeitgenössischer Musik und Hörspielartigem … fieldrecording und elektronischen Klängen sowie Samples“. Die Musik ist schillernd, hat etwas chamäleonhaftes wie die Figur des sich im Lauf der von der Renaissance bis ins 20. Jahrhundert erstreckenden Handlung in eine Frau verwandelnden Orlando, der im Erscheinungsjahr von Woolfs Roman seinen seit Jahrhunderten fortgeschriebenen Gedichtband „The Oak Tree“ veröffentlichen kann. Die musikalische Vielfalt und die Vorbilder lassen sich kaum aufführen. Neuwirths Musik ist zweifellos virtuos geschmeidig, umschmeichelt den Hörer oftmals sinnlich – und schmeißt sich mit „O Tannenbaum“ auch ein bisschen ran. Matthias Pintscher bannt die überbordende Klangpracht, steuert das Bühnenorchester der Wiener Staatsoper sicher und souverän durch die rotierenden Tonmassen und die durch die Zeiten gleitende Klangschichten.

Doch die Oper ist mit rund 2 ¾ Stunden reiner Musik etwas lang. Vor allem im zweiten Teil möchte man oftmals schreiend davonlaufen. Weniger wegen der Musik als des zusammengeschusterten Textes. Nach der Schilderung des Kindesmissbrauchs in der Viktorianischen Ära betreiben die Autorinnen mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und entsprechenden Dokumentarblitzen Wochenschau-Theater, verlassen die im Roman geschilderte Zeit und die Epoche der Woolf, blenden rasch in den Zweiten Weltkrieg und schwenken ebenso rasch zur Generation der 1968er, in die 1980er Jahre mit dem Einzug des Computers und in die aktuelle Gegenwart. Neuwirths Oper und die vor der Flut der Informationen kapitulierende kitschige Inszenierung landen bei einer gut gemeinten Politrevue und Volkshochschuldokumentation, die vom Holocaust bis zur Atombombe, vom Klimawandel bis zur Konsumkritik, einschließlich Gender und Genderfluidismus, alles anschneiden will – und damit langweilt. Dabei hatte Orlando so schön begonnen.  Rolf Fath