2008 kam Gandhi nach New York. Nicht der indische Rechtsanwalt und Friedenskämpfer Mahatma Gandhi höchstpersönlich, sondern die Hauptfigur in Satyagraha, der Oper, die Philip Glass über ihn geschrieben hat. Nach Einstein on the Beach von 1976 und vor dem 1984 in Stuttgart uraufgeführten Echnaton (engl. Akhnaten) bildet die als Auftragswerk der Niederländischen Oper 1980 in Rotterdam uraufgeführte Gandhi-Oper, deren Titel Satyagraha (gleichbedeutend mit „Festhalten an der Wahrheit“) Gandhis zentrale Botschaft vom gewaltlosen Widerstand zitiert, den Mittelteil eines Triptychons über bedeutende Männer der Weltgeschichte. Der 1937 geborene Glass, heute ein Klassiker der Avantgarde, etablierte sich damit als wesentlicher Repräsentanten der Minimal Music. Aus der zeitlichen Distanz mutet die Avantgarde der 1980er Jahre freilich schon wieder ein wenig museal an, was die von der English National Opera ausgeliehene Aufführung unterstreicht, die 2007 in London ihre Premiere hatte und im April 2008 erstmals an der Met gezeigt wurde, worauf sie im November 2011 eine Wiederaufnahme erlebte (DVD OMM 5010). Im Gegensatz zu Achim Freyer, dessen bildgewaltige, optisch bezwingende und vom der historischen Ausgangssituation losgelöste Inszenierung 1981 an der Stuttgarter Oper eine Sensation war, worauf er konsequenterweise 1984 mit einer nicht minder ausdrucksvollen Inszenierung auch zum Steigbügelhalter für Echnaton wurde, bietet der eine Generation jüngere englische Schauspieler und Regisseur Phelim McDermott die Volkshochschulvariante der Opera in Three Acts. Zugegeben, das Stück ist kompliziert. Es spielt auf unterschiedlichen zeitlichen Ebenen zwischen 1896 bis 1913 und zeichnet in den „Tolstoy“, „Tagore“ und „King“ überschriebenen Akten, die innerhalb der Akte zeitlich nochmals hin und herspringen, einen Ausschnitt aus dem Leben Gandhis in Indien und in Südafrika nach – Gründung der Zeitung „The Indian Opinion“, Verbrennung der Identitätskarten, mit denen die Kolonialmacht die Ausländer überwachte, und der „Marsch der Fünftausend“ – beschäftigt sich aber vor allem mit dem Entstehen seiner Lehre von Askese und Gewaltfreiheit. Indem Satyagraha einen Bogen schlägt zu Martin Luther King unterstreicht die Oper die Aktualität des gewaltlosen Widerstands als Mittel politischen Handelns und lässt sich als Reflex auf die amerikanischen Protestbewegungen der 1960er Jahre lesen. Seit Mitte der 60er Jahre hatte sich Glass, der durch den indischen Sitarspieler Ravi Shankar und den Komponisten Alla Rakha wesentliche Impulse für die repetitiven Strukturen seiner Musik erhielt, mit den Schriften Gandhis beschäftigt und Indien bereist. Zudem wird in Sanskrit gesungen; die Texte hat Constance De Jong aus der altindischen Bhagawad Gita zusammengestellt.
Ein theatralisches Ereignis ist diese Aufführung nicht. Doch schlicht und ehrlich ist sie, was die Londoner Times mit den Worten „a masterwork of theatrical intensity and integrity“ umschrieb. Plausibel stecken McDermott, sein Ausstatter Julian Crouch und sein Kostümbildner Kevin Pollard den historischen Rahmen ab. Das mag oft etwas betulich und plakativ wirken, birgt aber eine eminente Sinnfälligkeit und entbehrt nicht opernhaft eindringlicher Momente, wie die Szene, in der Mrs. Alexander (Mary Philips) Gandhi vor den aufgebrachten Männern schützt und die aus einem indischen Kostümfilm stammen könnte. Andächtige Gruppenbilder, bedeutungsvoll statische Begegnungen, Slow-Motion im Vordergrund, meditative Versenkung. Das Skills Ensemble bewegt im Hintergrund Zeitungen, Puppen und spinnt Fäden. Mit Orchestra and Chorus der Metropolitan Oper verleiht Dante Anzolini, der alle 14 Satyagraha-Aufführungen an der Met leitete, der Musik Zugkraft und psychedelischen Rausch, denen sich das Publikum nicht entgegenstemmen konnte und denen das vortreffliche Ensemble mit eindringlichen Porträts folgte: Richard Croft, der 1991 sein Met-Debüt als Belmonte gegeben hatte, trägt den Dhoti mit Würde und singt den Gandhi mit Hingabe und fein fokussierter Stimme. Viele aus der zweiten Reihe nutzen die Möglichkeit, endlich zum Zuge zu kommen: der Bariton Kim Josephson singt den Mr. Kallenbach wie eine italienische Paraderolle, die Bassbaritöne Bradley Garvin und Richard Bernstein geben die mythologischen Gestalten Prinz Arjuna und Krischna, der Bassbariton Alfred Walker den indischen Mitarbeiter Parsi Rustomij, Rachel Durkin ist Gandhis Sekretärin Miss Schlesen, die unverzichtbare Maria Zifchak seine Frau Kasturbai, während Molly Filmore, die indische Mitarbeiterin Mrs. Naidoo, nur eine sehr kurze Met-Karriere hatte. (Weitere Information zu den CDs/DVDs im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.) Rolf Fath