Wohl auf den Geschmack gekommen ist Christof Loy, denn nachdem er im März 2018 in Berlin librettogetreu in Korngolds Wunder der Heliane die Titelheldin nackt auftreten ließ, turnte wenig später im Dezember desselben Jahres im Theater an der Wien der Bösewicht Lysiart in Webers Euryanthe splitterfasernackt über die Bühne. Der Bluray-Betrachter allerdings wird um die untere Hälfte des Schauspiels gebracht, wenn die Kamera stets oberhalb der Schamhaargrenze bleibt oder zumindest ein Requisit die entscheidende Körperzone verdeckt. Hatte man da die Freiwillige Selbstkontrolle im Sinn oder das Buhgeschrei des Premierenpublikums im Ohr, das vielleicht im katholischen Österreich strengeren Sitten huldigt als das heidnische Berlin?
Der unmögliche Text, dem allerdings der Regisseur im Booklet-Text noch einiges abzugewinnen versucht, dürfte zumindest mit daran schuld sein, dass die musikalisch hochinteressante Oper kaum noch aufgeführt wird, und Loy tat gut daran, das im Frankreich Ludwigs VI. angesiedelte Werk in die Sechziger des vergangenen Jahrhunderts (Kostümbildnerin Judith Weihrauch hat zauberhafte Pettycoatkleider für den Chor entworfen) zu verlegen. Dem fällt dann allerdings auch das Ballett im dritten Akt zum Opfer, dafür wird zur Ouvertüre die Vorgeschichte erzählt, das vergebliche Werben Eglantines um die Gunst Adolars und ihr daher rührender Hass auf Euryanthe erklärt. Johannes Leiacker hat ein für alle Schauplätze taugliches Einheitsbühnenbild geschaffen, einen hohen, lichten Raum, links eine lange Fensterfront, im Hintergrund eine Flügeltür zu einer Terrasse, ein Bett, ein Flügel, zwei Stühle bilden das Mobiliar, ersteres viel genutzt und nicht nur zum Schlafen, das Musikinstrument von Eglantine, um ihren Triumph über die gelungene Intrige pantomimisch in die Tasten zu hämmern. Oft und gern gleiten die vier Hauptpersonen an der Wand in eine kauernde Stellung hinunter. Naturalistische Effekte wie ein großer Blutfleck auf dem weißen Brautgewand Eglantines werden ebenso wenig verschmäht wie heftige Blitze zu „Dunkle Nacht, du hörst…“. Kurz und gut, die Regie und ihr Team erweisen sich als kundige Theaterleute vom Fach, die mit allen Wassern ihres Metiers gewaschen sind. Modernistisches wie ein ambivalentes Verhalten der Massen oder wie nervliche Zerrüttung an der Grenze zum Krankhaften wird mit Geschmack serviert und berührt nicht den Kern, das Wesentliche der Charaktere, entstellt sie nicht.
Ein Glücksfall ist die Besetzung der Titelpartie mit Jacqueline Wagner, einer blonden Schönheit, deren klarer, reiner Sopran sieghaft über den Ensembles schwebt, deren Stimme in allen Lagen gleich gut trägt, für die Erscheinung der Emma geisterhafte Züge annehmen und auch dramatisch auftrumpfen kann wie in „Schimmernde Engelsschar“. Sie weiß das Interesse des Zuschauers für die verfolgte Unschuld zu wecken und aufrecht zu erhalten. Als Einzige in mittelalterlicher, sündhaft roter Gewandung, ist Theresa Kronthaler eine ebenbürtige Gegenspielerin Eglantine mit facettenreichem Gesang und Spiel, mit messerscharfer („Ich glaube dir“), sicherer Höhe, geläufigen Koloraturen und viel Substanz in der Mezzostimme. Recht verklemmt muss Norman Reinhardt seinen Adolar anlegen, dessen Tenor schön in „Strömen mir Lüfte“ und im düsteren „Dies ist der Ort“ klingt, der aber auch steif und flach erscheinen kann, wenn es vokal unbequemer wird. Mit geschmeidigem, farbigem Bariton frönt Andrew Foster-Williams seinen Rache- und sexuellen Gelüsten. Etwas dröge, aber durchschlagskräftig ist der Bass, den Stefan Cerny für den König einsetzt, dem hier eine Gattin an die Seite gestellt wurde. Der Arnold Schönberg Chor singt vorzüglich und setzt dazu noch raffinierte Regieanweisungen um, das ORF Wiener Radio Sinfonie Orchester unter Constantin Trinks lässt Webers Musik blühen, leuchten, rehabilitiert das zu Unrecht vernachlässigte Werk (Naxos NBD0107V). Ingrid Wanja