„Türen auf!“, habe Paul gestern gerufen, „Licht in meinen Tempel! Die Toten stehen auf“. Hausdame Brigitta gewährt Pauls Freund Frank, der nach längerer Abwesenheit nach Brügge zurückgekehrt ist, einen Einblick in Pauls Wohnung, die dieser im Haus zu einem „Tempel der Erinnerung“ an seine tote Frau Marie umgestaltet hat. Lange hat Paul den Verlust Maries betrauert. Doch nun ist er einer Frau begegnet, deren Ähnlichkeit mit der verstorbenen Marie ihn fasziniert und erregt. In dieser Situation des fiebernden Neubeginns trifft Frank auf Paul, der gesteht, „Du weißt, dass ich in Brügge blieb, um allein zu sein mit meiner Toten. Die tote Frau, die tote Stadt flossen zu einem geheimnisvollen Gleichnis“. Die tote Stadt, das Brügge aus Georges Rodenbach symbolistischem Jahrhundertwend-Roman Brugges-la-morte (1892, dt. 1903), den ihm Vater Julius Korngold unter dem Pseudonym Paul Schott zu einem Libretto einrichtete, wurde der Titel von Erich Wolfgang Korngolds dritter Oper, die ursprünglich Triumph des Lebens heißen sollte. 1920 gleichzeitig in Hamburg und Köln uraufgeführt, kehrte die einst sensationell erfolgreiche, dann von den Nationalsozialisten von den Theatern verbannte Die tote Stadt in den 1970er Jahren wieder in die Spielpläne zurück. Die Initialzündung hatte 1975 Erich Leinsdorfs Einspielung mit Kollo und Neblett geliefert, der eine Aufnahme des BR mit Karl Friedrich und Maud Cunitz aus dem Jahr 1952 vorausgegangen war. Die tote Stadt ist wieder ein Repertoirestück, an das man sich nicht nur an seinem hundertsten Geburtstag gerne erinnert, beispielsweise im Dezember 2019 an der Bayerischen Staatsoper, an der Simon Stone seine Baseler Produktion von 2016 wiederbelebte.
Für sein Operndebüt hatte sich der australisch-schweizer Regisseur, der sich im Beiheft der Bluray (Bayerische Staatsoper Recordings 4028098000050) feinsinnig über die Die tote Stadt auslässt, ein kompliziertes Werk über Trauma und Verdrängung ausgesucht, dessen Ende „ist der Beginn einer viel größeren Geschichte: Paul wird sich mit diesem Albtraum … nahezu nächtlich in den kommenden Jahren auseinandersetzen müssen. Denn er hat gerade erst die Tür geöffnet, den Tod Maries wirklich zu verarbeiten… Und Genau das macht es auch zu einem realistischen, guten Ende, denn es sagt uns: wir müssen weitermachen, und das ist oft das Schwerste von allem“. Mittlerweile sind Lear bei den Salzburger Festspielen und La Traviata an der Wiener Staatsoper gefolgt, auf deren Stehplatz sich der elfjährige Simon Stone bei einem Wien-Besuch mit seinem Vater jeden Abend „nicht eine Sekunde gelangweilt hat“.
Das Plakat zu Godards Pierrot le fou (auf dt. Elf Uhr nachts) von 1965 hängt neben anderen Filmplakaten – Antonionis Blow up – in dem modernen Haus mit der Nummer 37, das Ralph Myers als gesichtsloses Wohnkonstrukt aus Wohnzimmer, Schlafraum und Küche auf die Drehbühne gestellt hat, wo jetzt Paul fürs Großreinemachen die Plastikhandschuhe überstreift. Das Plakat verweist auf Korngolds Nachleben als Oscar-gekrönter Filmkomponist in Hollywood nach seiner Emigration in die USA und die vielfachen Wirkungen des Romans von Hitchcock bis zu weiteren Filmregisseuren. Eigentlich ist in Pauls Wohnung alles fein ordentlich in beschrifteten Pappschachteln, „Wohnzimmer“, „Bad“, „Küche“ usw., sortiert, die nun endlich ausgepackt werden. Die Schachtel mit der Aufschrift „Krankenhaus“ weist auf Maries Krankheit hin, durch die sie in der Folge auch ihre Haare verlor. Jonas Kaufmann spielt diesen Paul in Anzughose, weißem Hemd, Krawatte und Hosenträgern als habe er sich schon immer als Hausmann betätigt (Kostüme: Mel Page), dabei fordert ihn die Partie mit der strapaziösen ariosen Deklamation und den Höhenaufschwüngen im Forte von Anfang gewaltig heraus. Das baritonale Timbre verleiht ihm das nötige vokale Fundament und die dunkle Wucht, und die Kunst, auch in der Übergangslage mit empfindsamen Tönen zu zaubern, verleiht seinem Porträt eine anrührende Glaubwürdigkeit. Eine moderne Romanze: Marietta, die neue Frau in seinem Leben, radelt vors Haus, steigt durchs Fenster ins Haus, wo sie Paul bereits mit einem Blumenstrauß sehnsüchtig erwartet. Konversation am Küchentisch, den Paul schon gedeckt hat, und im Wohnzimmer, wo Marietta ihr „Glück, das mir verblieb“ wie einen nostalgischen Schlager ins Mikrofon trällert. Man meint, die Tränen in Pauls Augen zu sehen. Marlis Petersen singt und spielt diese moderne junge Frau burschikos, schillernd in Korngolds spätromantisch welkem Arien-Hit, dabei mit einer Empfindsamkeit, etwa wenn sich wie zufällig beider Hände finden, und einer einnehmenden lockenden Leichtigkeit und schlanken Sopranbravour in der Höhe. Simon Stone inszeniert diese Begegnung feinfühlig und selbstverständlich, mit ausgepichter Rücksicht auf die Freiräume, die die Sänger benötigen, und mit zart gesetzten Brüchen und Suspense-Momenten. Behutsam und spannend wie ein Thriller. Nach Mariettas überraschendem Aufbruch wirkt das Auftauchen der in Pauls Erinnerungen weiterlebenden Marie ganz natürlich. Stone schafft eine gebrochene Atmosphäre des magischen Realismus, in der das Vergangene in die Realität eindringt: locker in der Szene der Künstlerkollegen in Mariettas Wohnung (Juliette: Mirjam Mesak; Lucienne: Corinna Scheurle; Victorien: auffallend der Tenor Manuel Günther; Graf Albert: Dean Power) und der im dritten Akt im Haus herumtollenden Kinder, dann zunehmend unheimlich und bedrohlich, nachdem Paul die Tote in gleich mehrfacher Gestalt erscheint und Marietta sich über die Perücke Maries lustig macht. Paul meint, Marietta erwürgt zu haben. Doch diese radelt davon, so wie sie gekommen war. Nachdrücklich unterstrichen und getragen wird die glänzende Aufführung von Kirill Petrenko und dem vorzüglichen, in allen Kanten der Partitur schwelgerische Schönheit entdeckenden Bayerischen Staatsorchester. Jennifer Johnston als Brigitta und Andrzej Filonczyk als Paul und Fritz, wodurch ihm das Lied des Pierrots „Mein Sehnen, mein Wähnen“ zufällt, sind gut, ohne sich nachhaltig einzuprägen. Rolf Fath