Radames, Wotan und nun auch Ambroise Thomas‘ Hamlet von der Opéra-Comique in Paris in Trenchcoat oder zeitlosem Straßenanzug – was versprechen sich die Macher der Optik von Opernproduktionen von einer derartigen Vereinheitlichung, die nicht nur eine Nivellierung aller denkbaren Epochen, sondern zugleich der sozialen Schichtung in denselben bedeutet? Angeblich sollen sich junge Leute und damit das Publikum von morgen dadurch zu Opernbesuchen verlocken lassen, soll dem Besucher deutlich gemacht werden, dass die Probleme von damals auch die seinen sind. Zweifel an der Stichhaltigkeit dieser Argumente sind angemeldet, denn der Operngänger dürfte über intellektuelle Fähigkeiten verfügen, die ihn die Lage versetzen, das auch ohne Regie-Hilfskrücken zu erkennen, sollte erbost sein, wenn ihm lediglich weisgemacht werden soll, was des Regisseurs krude Weltsicht ist. Gerade junge Menschen aber sind eher fasziniert vom Eintauchen in auch optisch fremde Welten, womit allerdings nicht die Versetzung des Renaissance-Rigoletto auf den Planet der Affen gemeint ist. Man gewinnt also gar nichts mit Zwangs-Modernisierungen außer der anfechtbaren Freude am Zerstören von Erwartungen, verliert aber viel, ganze Dimensionen wie die der Zeit und erleidet die Einebnung einer komplizierten Sozial-Pyramide, wenn Kronprinz und Totengräber in miteinander austauschbaren Kostümen stecken. Welche Verarmung! Und wie lächerlich macht sich ein Opernheld im modernen Straßenanzug, wenn er sein und der Seinen Schicksal vom Auftreten eines Gespensts abhängig macht! Der aus Paris gleicht, abgesehen von seiner Kostümierung, auch sonst weder dem melancholischen Zauderer à la Goethe-Interpretation noch dem revolutionären Außenseiter, hat nichts von einem Horst Caspar, sondern trägt Dreitagebart, Glatze und sieht älter aus als sein Stiefvater Claudius.
Außer der optischen Modernisierung hat sich die Regie von Cyril Testé noch einiges Andere einfallen lassen: eine häufige horizontale Zweiteilung der Bühne in ein Oben mit Videogroßaufnahmen der Gesichter und ein Unten der Bühnenhandlung. Geist und Chor kommen häufig aus den Reihen des erstaunten Publikums, Techniker machen sich an der Szene und an den Protagonisten zu schaffen. Kulissenteile, darunter Fototapeten, führen ein wandelndes oder schwebendes Eigenleben (Bühne Ramy Fischler).
Akustisch gibt es viel Angenehmes zu vermelden: einen engagierten, klangschönen Chor, Les éléments, unter Joel Suhubiette, das im Repertoire erfahrene Orchestre des Champs-Élysées unter Louis Langrée und zum Teil vorzügliche Solisten.
Stéphane Degout hat einen recht hell getönten Bariton für den Titelhelden, der mit einem schmerzlichen „o ma mere“, einem ebensolchen „Noble scheme“ erfreut, eindrucksvoll „Sein oder Nichtsein“ vorträgt und dessen Stimme im Dialog mit Claudius eine angenehm dunkle Tönung annimmt. So entsteht ein bemerkenswerter Kontrast zur däumchenbeißenden und flascheleerenden Optik. Diese ist, was die Ophélie betrifft, eine höchst angenehme, auch nicht durch die im Rahmen des Möglichen den Charakter der Figur widerspiegelnden Kostüme von Isabelle Deffin gestörte. Zu der romantisch-mädchenhaften Person (die bezaubernde Sabine Devielhe/ Danke an den Lese Wim Nikolas Wiemert für die Erinnerungshilfe) passt die zerbrechlich wirkende Leichtigkeit des Gesangs, der ebenso wie die Figur dem Auge auch dem Ohr den Eindruck gefährdeter Lieblichkeit vermittelt, selbst wenn nicht dazu passen will, dass sie sich in ihrer Verzweiflung dem Alkoholgenuss hingibt. Einen runden, mütterlich klingenden Mezzo, nur in der Höhe flach, hat Sylvie Brunet-Grupposo für die Gertrude, Laurent Alvaro verleiht dem Claudius bassbräsige Töne, Julien Behr dem Laerte tenorale Präsenz. Le Spectre ist Jérộme Varnier mit passend deklamatorischem Gesangsstil. Kevin Amiel und Yoann Dubruque machen als Fossoyeurs und Marcellus und Horatio Eindruck. Eine DVD, die als CD ein fast ungetrübter Genuss gewesen wäre (Naxos 2.100640). Ingrid Wanja