Was tut man, wenn man unbedingt Verdis umfangreiche Oper La Traviata aufführen will, aber weder ein Orchester noch den hohen Ansprüchen gerecht werdende Sänger zur Verfügung hat? Man wuchtet eine „Adaption“ auf die Bühne, in diesem Fall auf die des Théâtre des Boufes du Nord, an dem 2018 Benjamin Lazar, auch Regisseur, Florent Hubert, auch verantwortlich für die musikalischen Arrangements und fürs Dirigieren, und Judith Chemla, die Violetta verkörpernd, sich der beliebtesten Oper des Komponisten annahmen.
Der für den Opernbesucher recht ungewohnte Klang wird von einem Minimalorchester, bestehend aus drei Streichern, drei Bläsern und einem Akkordeon, erzeugt, die Musik aber noch zusätzlich verfremdet durch Tempoverzerrungen, durch zwischendurch ertönendes Geheule und anderes. Zu Beginn tappen und tänzeln alle Mitwirkungen unter einem Schleiergebilde, das ganz zum Schluss noch zum ersehnten Brautschmuck der sterbenden Violetta wird, auch eine Mimi ist unter den sich Orgiastischem Ergebenden, lesbische Liebe keimt zwischen Flora und Violetta auf, kurzum zwischen Kitsch und Niemanden mehr Verstörendem wird mal gesungen, mal der Text des Librettos gesprochen, mal auch ein ganz neuer Text in unzähligen Wiederholungen wie „Ich gehe über die Seine-Brücke“ eingeführt, wobei zwar italienisch gesungen, aber französisch gesprochen wird. Die Musiker spazieren nach Belieben oder nach Plan, wer weiß, über die Bühne und durch die Handlung, geben auch mal die wahrsagenden Zigeunerinnen. Auch die Bühnenarbeiter, die fleißig Blumen schleppen, sind in das Geschehen mit einbezogen. Dämonisiert ist der Grenvil, der hier aus einem Drogenlabor fleißig Betäubendes ausschenkt. Es könnte auch sein, dass Flora für ihn auf den Strich geht, oder will sie mit dem Batzen Geld, den sie überreicht, nur Drogen erwerben? Da gibt es einiges zu sehen, was Kichern und Lacher im Publikum erzeugt. Der letzte Akt spielt in rosarotem Ambiente (Szene Adeline Caron) und zeigt anhand einer Auktionsliste, dass Violetta gar nicht so verarmt starb, wie uns Verdi weismachen wollte, neben dem auch Dumas zu Wort kommt.
Das Personal ist knapp bemessen, so dass der Hornist zugleich auch Baron Douphal sein darf, Annina und Flora eine Person sind, nämlich Elise Chauvin mit dünnem Mezzosopran. Eigentlich Tenor ist Jérȏme Billy, der vokal aber trotzdem der Beste auf der Bühne ist, auch wenn er nur die zweite Strophe von „Di provenza il mar“ und sonst kaum etwas singt. In Basslage beginnt der Tenor Damien Bicourdan „Pargi o cara“, danach hört sich das wundervolle Duett einfach schrecklich an, man ist froh, dass der Sänger nur Teile seiner Arie, die Cabaletta gar nicht singt. Judith Chemla ist Schauspielerin und Sängerin, eher ersteres und als singende Violetta mit zu dünner, oft schriller und schräg klingender Stimme keine Freude. So ist insgesamt für den, der die Oper kennt, das ambitioniert tuende Unternehmen eher ein Ärgernis als ein Genuss, könnte seine Daseinsberechtigung höchstens daraus beziehen, in dem einen oder anderen Zuschauer den Wunsch zu wecken, sich eine „richtige“ Traviata anzusehen und zu -hören (BelAir BAC 456). Ingrid Wanja