Aus einem Guss

 

Neu sind diese Meistersinger von Nürnberg nicht. Neu ist der Rückgriff auf die Originalbänder. Und das zählt. Erstmals dürften sie bei Vox herausgekommen sein, noch als LP-Kassette. Später dann auf CD bei Myto. Als MP3 liegen sie bei Cantus vor. Der Klang war so schlecht nicht. Jetzt nahm sich Profil Edition Günter Hänssler die Rundfunkproduktion von 1951 im Rahmen der Semperoper Edition vor (PH 13006). Es hat sich gelohnt. Alles, was bisher zu hören war, wird auf die hinteren Plätze verwiesen. Die Aufnahme wird in ihre alten Rechte eingesetzt. Sie klingt transparent und klar. Wie am ersten Tag. Vielleicht noch besser. Insofern kann sie es technisch mit vielen Produktionen aus späteren Jahren aufnehmen. Stimmlich sowieso.

Vom ersten Ton an wird orchestrale Pracht entfaltet. Die Zuhörer werden regelrecht hineingezogen in das Wer. Der Eindruck ist so stark, dass man zuletzt darüber nachdenkt, in welchem Jahr die Aufnahme denn eigentlich entstand. Wirklich schon vor 65 Jahren? Ist das kein Irrtum? Ist es nicht. Einmal schleift das Band während des Vorspiels. Wie bei einem Spulengerät, das im Begriffe ist, seinen Geist aufzugeben. Nanu? In diesem Moment kommt eine Ahnung vom tatsächliche Alter auf. Für diesen kurzen Moment. Als würde ein Schleier gelüftet. Schnell ist es vorbei. Die Musik gewinnt ihr Tempo zurück. Was sich in den nächsten Stunden im Orchester abspielt, macht Zeitrechnungen nebensächlich.

Am Pult der Staatskapelle Dresden steht Rudolf Kempe, der fünf Jahre später Wagners Meistersinger erneut für die EMI einspielte. Kempe war zum damals Generalmusikdirektor der Dresdner Staatsoper. Aufgenommen wurde in Mono. Während bei der Stereophonie ein räumlicher Eindruck durch mehrere Schallquellen erzeugt wird, schafft er es durch Fertigkeit – und Kunst. Ob Streicher, Holz, Blech oder Pauken. Kempe gewährt den einzelnen Instrumentengruppen viele solistisch anmutende Entfaltungsmöglichkeiten. Sie treten an den entsprechenden Stellen jeweils deutlich hervor, fallen aber nie auseinander, weil mit Kempe ein Kapellmeister vor ihnen steht, der alles lenkt und den großen Apparat mit fester Hand zusammenhält. Dadurch entsteht mitunter ein Höreindruck, der an ein frühes Stereo erinnert. Ein großer Vorzug der Aufnahmen ist das. Es wird deutlich, dass kein noch so perfekt ausgeklügeltes Aufnahmeverfahren ersetzen kann, was dem Dirigenten zukommt. Er befindet über die musikalische Qualität und nicht der Toningenieur.

Mehr als die Musiker sind es die Sänger, die dieser Produktion den historischen Touch aufdrücken. So wie sie singen, singt heute keiner mehr. Wissend und stets dem Wort verpflichtet. Immer ist alles zu verstehen. Wer den Text nicht kennt, könnte ihn anhand dieser Aufnahmen, die übrigens die erste Studioproduktion dieser Oper gewesen ist, auswendig lernen. Ideale Voraussetzungen dafür sind dadurch gegeben, dass alle Mitwirkenden deutscher Zunge sind. Sie haben gut gelernt, sind mit ihren Rollen oft seit Jahren vertraut, haben sie unter den verschiedensten Bedingungen und Dirigenten ausprobiert. Nichts wackelt. Die Bälle fliegen hin und her. Bühnenatmosphäre kann nicht anders sein. Oder sind diese Meistersinger von Nürnberg auch deshalb wie aus einem Guss, weil sie an nur einem einzigen Tage, nämlich am 29. April 1951 eingespielt wurden?

Fast alle Sänger sind in den besten Jahren für ihre Partien. Ferdinand Frantz, der den Hans Sachs gibt, wurde 1906 geboren, ist zum Zeitpunkt der Produktion Mitte vierzig. Er singt den Schuster sehr geschmeidig. Bernd Aldenhoff, als Stolzing etwas hart im Ton, und der stimmgewaltige Kurt Böhme (Pogner) sind Jahrgang 1908, die Eva Tiana Lemnitz 1897. Sie ist Älteste im Ensemble, was auch zu hören ist, hat ihren Zenit deutlich überschritten und kann die „Jungfer“ nicht mehr überzeugend darstellen. Die Lemnitz rettet sich mit all ihrer Erfahrung entschlossen in die Kunst. Sie zelebriert die Figur, macht hohe Schule daraus, statt sie mit wirklichem Leben zu erfüllen. Schade, dass nicht die 1913 geborene Elfride Trötschel besetzt worden ist, die die Eva zur gleichen Zeit mit großem Erfolg in Dresden auf der Bühne sang.

Einige Namen auf der Besetzungsliste stehen für das Kommende. Der 1916 geborene Gerhard Unger hatte erst nach dem Krieg begonnen. Er ist ein idealer David, wirbelt jungenhaft, selbstbewusst und umtriebig durch die Produktion. Kein Wunder, dass ihn Kempe auch bei seiner zweiten Studioeinspielungen einsetzte. Aus seiner großen Szene im ersten Aufzug, wenn er dem Walther von Stolzing Sinn und Zweck des Meistergesangs erklärt, wird ein Kabinettstück ohnegleichen Theo Adam, Jahrgang 1926, später selbst ein bedeutender Sachs, sammelte erste Wagner-Erfahrungen als Seifensieder Hermann Ortel. Der gleichaltrige Gerhard Stolze, der es als Mime zu Weltruhm brachte, sang den Augustin Moser. Und die große Dresdner Bariton-Hoffnung Werner Faulhaber, der nur ein Jahr jünger war und 1953 tödlich verunglückte, ist mit zwei Rollen, Hans Foltz und Nachtwächter, vertreten. Um ihn ist es wirklich schade. Er hätte dem Operleben noch sehr viel geben können. Rüdiger Winter

  1. Kevin

    Ja, es ist schade, dass das Evchen-auf-LP für die Lemnitz so spät kam. Ich bin trotzdem sehr dankbar, dass es diese Aufnahme mit ihr gibt, weil sie so unendlich viel zu sagen hat. Dafür nehme ich gern in Kauf, dass sie zu reif für die Partie klingt. Ihr „Selig wie die Sonne“ ist dennoch eine Wucht. Und wenn Cecilia Bartoli demnächst Maria aus West Side Story singen kann – in Salzburg zu Toppreisen! – dann kann Lemnitz allemal die Meistersinger machen. (Falls das ein Trost ist.)

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