De Ring Nibel! Was wie Übertragung des Titels von Richard Wagners Bühnenfestspiel Der Ring des Nibelungen in den Dialekt eines fremden Bergvolkes anmutet, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als grafischer Gag. Man muss nur um die Ecke lesen können, um schlau aus diesem Einfall zu werden. Unter Hinzuziehung der Rückseite der Box wird aus dem Gestammel Klartext. Ob das eine so gute Idee ist? Wer heutzutage mit einem Ring am Markt nicht übersehen werden will, muss sich wohl auch optisch etwas ganz besonderes einfallen lassen. Die Rede ist von einer neuen Ausgabe des Mitschnittes der konzertanten Aufführung mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter der Leitung seines Chefdirigenten Marek Janowski aus der Berliner Philharmonie in den Jahren 2012 und 2013 bei Pentatone (PTC 5186 581). Alle Teile wurden von Deutschlandradio Kultur übertragen und gelangten rasch auf CD. Erst einzeln, dann als Sammelbox. Janowski hatte bekanntlich unter den gleichen Umständen auch die anderen Werke des so genannten Bayreuther Kanons aufgeführt und mitschneiden lassen. Anlass war der 200. Geburtstag Richard Wagners im Jahre 2013.
Braucht es nun aber zusätzlich einen so großen Kasten? Er hat die Ausmaße von mindestens zwölf aufeinandergestapelten Langspielplatten und wiegt auch so viel – wenn nicht mehr. Während Speichermedien in der digitalen Welt immer kleiner werden, ufert es bei CD-Angeboten gern aus. Dieser Ring ist nicht die erste Edition mit derartigen Dimensionen. Wie soll man die unterbringen zu Hause im Regal? Auch die Handhabung erweist sich als umständlich. Es dauert, bis eine CD aus ihrem Steckplatz herausgefummelt und wieder hineinbefördert ist. Wenn es sich wenigstens inhaltlich lohnen würde. Es gibt nichts, was über die bisherigen platzsparenden Ausgaben hinausginge. Der Mehrwert ist gleich null. Hier wie da SACD, jenes Audioformat, das wesentlich höher aufgelöst ist als die herkömmliche CD. Die richtige Anlage vorausgesetzt, klingt es auch besser – transparenter, was der Musik und dem Gesang Wagners entgegen kommt. Und auch dem Stilempfinden von Janowski. Der dicke Wälzer enthält den gesamten Text mit den Szenenanweisungen, die Tracklisten, mit winzigen Fotos versehene Biographien der Mitwirkenden, einige erhellende Worte zum Werk – sonst nichts. Alles in Schwarzweiß. Da kommt schon mal der Verdacht auf, dass an der Farbe gespart wurde. Die Besetzungen sind erst nach längerem Hin- und Herblättern der schweren Seiten zu finden. Dringend empfehlen sich Lesezeichen. Sonst geht die Sucherei immer wieder von vorne los. Das ist zu wenig. Was wie geklotzt daherkommt, entpuppt sich schlussendlich als ziemlich kleinteilige Kleckerei, die nur großspurig tut. Von Sinnlichkeit keine Spur. Es macht keine Freude, in diesem Wälzer, der einem fast aus den Händen rutscht, zu blättern. Nötig ist ein solider Tisch als Unterbau.
Doch halt! Es könnte mit dieser Neuerscheinung eine ganz besondere Absicht im Spiele sein. Und dagegen ist nichts einzuwenden. Marek Janowski dirigiert in diesem Sommer erstmals bei den Bayreuther Festspielen. Von Kirill Petrenko übernimmt er die Leitung des Ring des Nibelungen. Es werden einige Erwartungen in dieses späte Debüt gesetzt. Janowski geht auf die Achtzig zu. Da kann es nicht verkehrt sein, den Auftritt, der im kommenden Jahr seine Fortsetzung finden soll, mit einer aktuellen Aufnahme des von ihm betreuten Werkes zu begleiten, die allein durch ihre großzügige Verpackung Aufmerksamkeit erregt. Direkt am Festspielhaus gibt es den legendären Verkaufskiosk, an dem jeder Besucher in den langen Pausen mindestens zehnmal vorbei kommt – und wenn auch nur aus Langeweile stehen bleibt. In der Stadt selbst umwerben einschlägige Geschäfte das interessierte und zahlungskräftige Publikums, das viel Zeit für den obligatorischen Bummel hat und gern vor Schaufenstern verweilt, die vollgestopft sind mit CDs, DVDs, Büchern und Wagner-Büsten. Ein Ring wie dieser dominiert jede Auslage.
Janowski hatte sich in den neunziger Jahren vom Opernbetrieb zurückgezogen. Mit seinen konzertanten Darbietungen der Musikdramen Wagners setzte er ein Gegengewicht zu den szenischen Extremen mancher Inszenierungen. Nun also Bayreuth, dazu noch Frank Castorf. Dessen Ring im Erölmilieu gleicht der Erfindung des Regietheaters. „Damit ist der hochgeschätzte Chef des Berliner Rundfunk-Sinfonieorchesters zwar ein Renegat, aber ein hochsympathischer“, hatte die „Welt“ bereits im November 2014 gefrotzelt und sich eine „Sensation“ versprochen. Der mythische Abgrund habe ihn, Janowski, zur Überraschung aller gelockt. Mit der Russin Marina Prudenskaya ist lediglich eine Sängerin aus Janowskis Berliner Ensemble nun auch in Bayreuth zu hören – und zwar ebenfalls als Waltraute in der Götterdämmerung. Sonst gibt es keine weiteren Übereinstimmungen. Ein Hinweis darauf, dass Janowski nicht die glücklichste Hand bei der Auswahl seiner Sänger hatte, ist dies aber nicht. Auch in Bayreuth wird nur mit Wasser gekocht. Es gab nicht nur Lob für den Berliner Ring. Fehlbesetzungen konnten auch durch nachträgliche ausgleichende Bearbeitung im Studio nicht aus der Welt geschaffen werden.
Zu Erinnerung. Petra Lang sang die Brünnhilde in Walküre und Götterdämmerung, Violeta Urmann im Siegfried. Melanie Diener war die Sieglinde, Iris Vermillon die Fricka, Anna Larsson die Erda im Siegfried, Maria Rader im Rheingold. In den Siegfried teilten sich Stephen Gould und Lance Ryan (Götterdämmerung). Wotan und Wanderer waren durchgehend mit Tomasz Konieczny besetzt, Jochen Schmeckenbecher blieb immer der Alberich. Für den Hagen war das Urgestein Matti Salminen aufgeboten. Im Verlauf eines Konzerts ist das Publikum versöhnlich gestimmt. Denn auf Tiefpunkte folgen auch Höhepunkte. Unwägbarkeiten gehören dazu, geben dem Abend die Würze, heizen die Spannung an. Wenn aber Durchschnitt dauerhaft auf ein Medium gepresst wird, stellt sich die Frage nach dem Sinn. Eine Opernaufnahme wird auch durch lange Liegezeiten nicht besser. Petra Lang ist nun mal keine Brünnhilde für die Ewigkeit, Lance Ryan als Siegfried auch nicht. Und das sind nur zwei Namen. Ein Werk wie der Ring lebt nicht vom Orchester allein. Auch wenn es schwere sinfonische Arbeit zu leisten hat, die entscheidende Aufgabe kommt den Sängerinnen und Sängern zu. Mir ist keine Aufnahme bekannt, die ausschließlich durch die Leistung des Dirigenten und seiner Musiker in die Musikgeschichte eingegangen wäre. Bekanntlich ist kein Mangel an solchen Einspielungen – offiziellen wie inoffiziellen, Studioproduktionen wie Mitschnitten, Video oder Audio.
Marek Janowski macht sich sogar selbst Konkurrenz. Er ist einer der wenigen Dirigenten, die mit zwei offiziellen Einspielungen hervorgetreten sind. Zur Berliner kommt die Dresdner Aufnahme, die zwischen 1980 und 1983 entstand. Es war eine Co-Produktion der Ariola-Eurodisc mit dem VEB Deutsche Schallplatten Berlin, die jetzt bei RCA/ Sony zu haben ist. Sie war nie aus den Katalogen verschwunden. Die einzelnen Teile gab es sogar als Querschnitte auf LP und noch als Musikkassetten. Das Interesse scheint auch nach mehr als 30 Jahren nicht erlahmt zu sein. Den Ruhm dieser Aufnahme teilt sich Janowski mit einem Ensemble, das nach heutiger Erfahrung als erlesen gelten darf. Allein auf Jessye Norman als Sieglinde fällt ein erheblicher Teil des Glanzes. Sie galt damals als ein Ereignis. Nach den jeweiligen Aufnahmen trafen sich die Mitwirkenden bei konzertanten Aufführungen im Dresdner Kulturpalast. Für Normalsterbliche waren Karten nur unter der Hand zu haben. Ich werde nie vergessen, wie die Norman hereinrauschte, in nachtblauen Chiffon gehüllt, der wie im Winde wehte. Jeder Schritt und jede Geste waren kalkuliert. Sie begann, sich als Gesamtkunstwerk zu stilisieren. Für sich genommen geriet bereits der Auftritt zu einem wichtigen Bestandteil der gesamten Veranstaltung. Das Publikum raste, noch bevor sie einen Ton von sich gegeben hatte. Mit Siegfried Jerusalem als Siegmund und Kurt Moll als Hunding wurde der erste Aufzug der Walküre zum musikalischen Fest. Jeannine Altmeyer debütierte als Brünnhilde. Was ihr an Ausdruck und Wissen um die große Partie fehlte, kompensierte sie durch blonde Schönheit, Anmut und strahlende Höhen. Mit an jugendlichen Leichtsinn grenzendem Selbstbewusstsein schmetterte sie dem Wotan von Theo Adam ihre Hojotoho’s entgegen. Das hatte Format. Den Stil der hohen Frau vermittelte Yvonne Minton als Fricka mit ebenmäßigen Tönen. Der spätere Allerweltsstar Cheryl Studer durfte noch als Ortlinde auf dem Walkürenfelsen den drohenden Gewittersturm von Norden ansagen. So war das damals. Nach meiner Erinnerung kamen die übrigen Teile an die Walküre nicht heran. Übrigens war Matti Salminen bereits in dieser Produktion der Hagen.
Die Aufzeichnung im Studio der Lukaskirche hat diese überbordende Atmosphäre, die nur einem Live-Abend zu eigen ist, nur bedingt einfangen können. Das macht aber die Einspielung selbst nicht kleiner – nur anders. Niemand im Ensemble war überfordert mit seiner Rolle. Als gebe es den Begriff Fehlbesetzung nicht. Ich kann mich kaum an ein anderes musikalisches Ereignis erinnern, bei dem Werktreue, Professionalität und künstlerische Besessenheit so eng beieinander waren. Schließlich stellte eine neue Ring-Produktion Anfang der achtziger Jahre noch ein Ereignis dar. Die Diskographie dieses aufwändigen Opus war noch relativ schmal. Es gab nicht diese Schwemme von heute. Insofern hat es sich der Dirigent Janowski nicht eben leicht gemacht mit seiner neuen Aufnahme. Auch wenn er das anders bewerten dürfte, er konnte sich, bezogen auf das Gesamtergebnis, selbst nicht toppen.
Bayreuth könnte auch im Vergleich mit diesen Einspielungen spannend werden. Spannend auch deshalb, weil Petrenko in den ersten beiden Festspielsommern die Latte im Orchestergraben ziemlich hoch gehängt hat. Kritik und Publikum waren ganz auf seiner Seite. Janowski, der den Ring des Nibelungen in seiner langen Karriere oft dirigierte, wird ein eigenes Konzept anbieten wollen und müssen. Und wer weiß, vielleicht wird dieser Bayreuther Ring am Ende ja auch noch für eine Veröffentlichung aufzeichnet. Dann käme Janowski zu seiner dritten Aufnahme. Rüdiger Winter
Das Bayreuther Festspielhaus erwartet bald wieder seine Besucher aus aller Welt. Die 105. Spielzeit wird am 25. Juli mit der Neuinszenierung von Parsifal in der Regie von Uwe Eric Laufenberg eröffnet. Die musikalische Leitung hat Andris Nelsons. Neben dem Ring des Nibelungen stehen Tristan und Isolde, inszeniert von Festspielleiterin Katharina Wagner und dirigiert von Christian Thielmann sowie der von Axel Kober geleitete Fliegende Holländer in der Inszenierung von Jan Philipp Gloger auf dem Programm. – Das große Foto oben zeigt die Büste Richard Wagners von Arno Breker im Park auf dem Grünen Hügel. Einen Blick auf den Balkon des Festspielhaus zeigt das untere Bild. Fotos: Winter