In der langen Liste der Aufnahmen von Gustav Mahlers Rücker-Liedern sind Soprane nicht die Regel sondern die Ausnahme. Anja Harteros hat sie auf ihrer neuesten CD mit Richard Wagners Wesendonck-Lieder und den Sieben frühen Liedern von Alban Berg gekoppelt. In allen drei Fällen wurden die Orchesterfassungen gewählt. Die Aufnahme ist beim Eigenlabel der Münchner Philharmoniker, die unter der Leitung ihres Chefdirigenten Varlery Gergiev begleiten, erschienen (MPHIL 0024). Als Kooperationspartner wird BR Klassik genannt, die Lizenz erteilte die Service-GmbH BRmedia. Alle sind optisch nahezu gleichberechtigt aufgeführt. Es wird nicht übersichtlicher auf den Musikmarkt, wo einst die großen Firmen das Sagen und ihre jeweiligen Stars unter Vertrag hatten. Man wusste auf Anhieb, wer bei wem sang und dirigierte, wo also eingekauft werden musste, um jemand ganz bestimmten hören zu können. Für die Kunst selbst müssen die geteilten Zuständigkeiten keinen Abbruch bedeuten. Vielmehr treten die beteiligten Künstler in ihrer Eigenständigkeit und Unabhängigkeit sogar noch deutlicher hervor. Auf dem aktuellen Cover steht neben Harteros und Gergiev kein Firmenloge mehr. Es ist, als agierten sie nur für sich und für ihr Publikum. Die Neuerscheinung aus München entstand in der Philharmonie am Gasteig. Kleingedruckt wird im Booklet mitgeteilt, dass die einzelnen Liedgruppen zu deutlich unterschiedlichen Zeiten aufgenommen wurden – Wagner im Januar 2018, Mahler im April 2019 und Berg im Januar 2020. Für eine einzige CD mit gut einer Stunde Spielzeit ist das eine lange Spanne. Und das Foto der Künstlerin auf dem Cover? Man könnte schwören, dass es aus einer Serie stammt, die mindestens zwölf Jahre alt ist. Schon Berlin Classics dürfte für die Lieder-CD „Von ewiger Liebe“, die 2009 erschien, darauf zurückgegriffen haben. Es wäre gewiss reizvoll gewesen, die CD unter dem Gesichtspunkt zu hören, ob die Sängerin die Zyklen in eine interpretatorische Beziehung setzen würde und könnte. Dies hätte allerdings einen engen Produktionszeitraum vorausgesetzt. Nun aber wirken die Werke von sich getrennt – als Resteverwertung auf sehr hohem Niveau.
Die Rückert-Lieder waren von Mahler genau so wenig als Zyklus gedacht wie die anderen Werke. Erst durch die Aufführungsgeschichte wurden sie im Zusammenhang wahrgenommen und gedeutet. Die Instrumentierung von Liebst Du um Schönheit stammt nicht einmal von Mahler selbst. Diese Arbeit besorgte der Verlagsangestellt Max Puttmann, was auch im Booklet-Text von Susanne Stähr herausgestellt wird. Die Autorin arbeitet auch die tiefen inhaltlichen Verknüpfungen zwischen den einzelnen Liedern und Lebenssituationen Mahler trefflich heraus. „Das bin ich selbst“, soll er über das Lied Ich bin der Welt abhanden gekommen gesagt haben. Es war übrigens das erste Lied der Gruppe, das auf Tonträger gelangte. Die Amerikanerin Sara Cahier, eine Altisten, nahm es 1930 unter Selmar Meyrowitz auf (Naxos). Bei der Uraufführung 1905 unter Mahlers Leitung in Wien, ließe er sie von einem Mann singen. Im Großen und Ganzen trägt Anja Harteros alle Lieder auf der CD technisch ohne Fehl und Tadel vor. Ihre vielen Fans werden sie dafür sehr lieben. Es gibt auch für mich nichts auszusetzen, außer, dass der Umgang mit dem Text hätte noch genauer ausfallen können. Die Interpretation bewegt sich mehr an der Oberfläche denn in der Tiefe – ohne oberflächlich zu sein. Geboten wir eine zeitgemäßer, moderner Ansatz ohne grüblerischen Weltschmerz und Todessehnsucht. Die großen alten Damen der Liedkunst sollten – was auch unfair und ungerecht wäre – nicht zum Vergleich herangezogen werden. Immer mal wieder macht sich die die Opernsängerin Harteros bemerkbar durch etwas veristische und brustige Tonproduktionen. Sollte ich mich für ein Werk entscheiden müssen, ich würde Wesendonck-Lieder von Wagner nehmen. Es liegt ja in der Werkgeschichte begründet, dass sich hier auch schon die Isolde ankündigt, mit der die Künstlerin erst kürzlich in München erfolgreich debütierte.(Weitere Information zu den CDs/DVDs im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.) Rüdiger Winter