Zerbrechlicher Händel

 

Mit dem keuschen Blick einer Jungfrau schaut Julia Lezhneva vom Cover ihres  zweiten Soloalbums bei Decca, das ganz Händel mit seinen frühen italienischen Werken gewidmet ist und natürlich auch einen Hit des Komponisten, „Lascia la spina“, aus dem Oratorium Il Trionfo del Tempo e del Disinganno enthält. Die russische Sopranistin singt passend zum Ausdruck auf dem Foto mit asketischem Ton ihres schlanken Soprans: zart, fast zerbrechlich, ganz entrückt – und damit völlig anders als Cecilia Bartoli, deren Vivaldi-Album für die Sängerin der Anstoß für die Beschäftigung mit Barockmusik war. Mit dem Ensemble Il Giardino Armonico unter Giovanni Antonini hat sie versierte Spezialisten der Alte-Musik-Szene zur Seite, die sie inspirieren und tragen.

Das Programm beginnt mit der jauchzenden Arie des Angelo „Disserratevi, o porte d’Averno“ aus dem Oratorium La Ressurrezione, in welcher die Interpretin jubilierende Koloraturgirlanden hören lässt und mit schier übermenschlicher Kunstfertigkeit überwältigt. Es folgt die Arie der Esilena aus Händels erster italienischer Oper Rodrigo, „Per dar pregio“, in welcher sie auf ihren Ehemann verzichtet und ihn an die Rivalin abtritt, ihm aber dennoch treu bleibt. Hier entwickelt sich ein virtuoser Dialog mit der obligaten Solovioline. Die zweite und letzte Oper des Komponisten war Agrippina, aus der die ausgedehnte Arie der Titelheldin „Pensieri, voi mi tormentate“ in der ursprünglichen Fassung erklingt. Lezhneva zeichnet mit bohrenden Klagelauten ein bemerkenswertes Porträt dieser Frau in ihrem Bestreben, dem Sohn Nerone den Thron zu sichern. Das Orchester stellt noch die gravitätische Sinfonia aus dieser Oper vor, welche im Mittelteil einen erregten Duktus annimmt, was die Musiker mit spannenden dynamischen Kontrasten und Affekten umsetzen. Mit einem Ausschnitt aus der Kantate Apollo e Dafne streift die Sängerin in ihrer Auswahl noch ein weiteres Genre. In der Arie der Titelheldin „Felicissima quest’ alma“ hat sie Gelegenheit, in einem anmutigen Siciliano die Freiheit des Herzens zu preisen. Beispiele lateinischer Kirchenmusik aus Händels Feder sind die Arie „Tecum principium“ aus dem Vesperpsalm Dixit Dominus und die viersätzige Motette Salve Regina. Die klare,  keusche Stimme der Lezhnava mit makelloser Formung aller Ornamente ist für diese Art Musik ideal, erinnert stilistisch und in ihrer Reinheit an die einstige Primadonna der Alten Musik, Emma Kirkby.

Aus dem Trionfo-Oratorium gibt es nach„Lascia la spina“ noch drei weitere Arien. Das atemlose, Affekt reiche „Un pensiero nemico di pace“ singt die Bellezza, wie auch das innige „Tu del Ciel“, während „Come nembo che fugge“  dem Piacere gehört und mit rasenden Koloraturketten das wütende Eingeständnis einer Niederlage darstellt. Die stupende Geläufigkeit, traumwandlerische Sicherheit der Stimmführung und kristalline Reinheit ihres Timbres stellen Julia Lezhneva in die erste Reihe der Barocksängerinnen unserer Zeit, was der Bonus-Track mit dem „Rejoice“ aus dem Messiah eindrucksvoll bestätigt (Decca 478 9230). Bernd Hoppe