Wehmütige Hommage

 

Im Booklet seiner neuen CD Caruso 1873 äußert sich Roberto Alagna voller Verehrung über den legendären, 1873 in Neapel geborenen Tenor, dem er ein Arien-Programm gewidmet hat, dessen 20 Titel aus der Oper, dem Oratorium und der Sammlung neapolitanischer Canzonen stammen (Sony 9380302). Es ist ein vielfältiges Potpourri, beginnend mit einer schmachtenden Komposition von Lucio Dalla, welche „Caruso“ betitelt und als Reverenz vor dem Idol zu verstehen ist. Dalla hatte sich für seinen Pop-Song an mehreren Passagen von „Dicitencello vuie“ bedient, einer Canzone, die zehn Jahre nach Carusos Tod geschrieben wurde. Alagna und der Dirigent Yvan Cassar kreierten eine mehr opernhafte Version, die zu Luciano Pavarottis bevorzugten Titeln zählte und die man sich auch aus dem Munde Carusos hätte vorstellen können. Mit dem „Domine Deus“ aus Rossinis Petite Messe solennelle folgt der einzige Ausschnitt aus einem geistlichen Werk, den der Tenor mit harscher Energie angeht. Die Szenen aus Opern werden mit „Ombra mai fu“, dem berühmten Largo aus Händels Serse, eröffnet. Die Barockmusik zählte nicht zu Carusos Repertoire, auch nicht zu dem Alagnas, aber das Stück wurde wegen seiner enormen Popularität von vielen gestandenen Sängern interpretiert. Erst 1920 nahm Caruso es im Rahmen seiner letzten Sitzungen auf. Alagna singt es stilistisch zweifelhaft und mit sentimentalem Anstrich. Es folgen einige Raritäten, wie das schwungvolle„Mia piccirella“ aus Antònio Carlos Gomes’ Salvator Rosa, das  Duett  Pery und Cecilia„Sento una forza indomita“ aus Il Guarany vom selben Komponisten (mit der Sopranistin Aleksandra Kurzak) und „Ô lumière du jour“ aus Anton Rubinsteins Néron, das in Alagnas Interpretation eine machtvolle Steigerung erfährt. Nadirs „Mi par d’udir ancora“ aus George Bizets Les Pêcheurs de perles, Maurizios „No, più nobile“ aus Francesco Cileas Adriana Lecouvreur und Des Grieux’ Traumerzählung aus Jules Massenets Manon sind klassische Tenor-Hits. Bei Nadirs Arie könnte man sich eine noch träumerisch-entrücktere Deutung vorstellen, empfindet zudem die hohen Falsetttöne am Schluss als befremdlich; aber die Solo des Maurizio und Des Grieux zählen zu den gelungenen Titeln der Platte.

Zu Zeiten Carusos war das Taufterzett aus dem 3. Akt von Giuseppe Verdis I Lombardi alla prima crociata ein beliebter Titel in Schallplattenprogrammen. Der Tenor nahm es 1912 mit der Sopranistin Frances Alda und dem Bariton Marcel Journet auf. Auch von Beniamino Gigli, Elisabeth Rethberg und Ezio Pinza existiert eine berühmte Einspielung. Hier vereint Alagna seine Stimme in einer tour de force mit Aleksandra Kurzak und dem Bassisten Rafal Siwek, kommt deutlich an seine Grenzen und auch die Sopranistin wirkt überfordert. Ein Kuriosum ist die Aufnahme von Collines Mantellied, „Vecchia zimarra“, aus Giacomo Puccinis La bohème – eigentlich eine Bass-Arie, die Caruso in einer Aufführung 1913 in Philadelphia für den erkrankten Sängerkollegen spontan übernahm und 1916 nur zum privaten Gebrauch einspielte. Bis 1948 blieb das Dokument unveröffentlicht. Alagna beweist in diesem Titel sein Potential in der Mittellage, was ihn möglicherweise später auch zur Übernahme von Baritonrollen befähigen könnte.

Nicht weniger als neun Canzonen komplettieren das Programm. Giovanni Battista Pergolesis „Tre giorni son che Nina“ zählen zu den Arie antiche, welche oft von Sängern an den Beginn ihrer Recitals gestellt werden, da sie keine hohen gesanglichen Ansprüche stellen. Gefragt sind Delikatesse und Kultur des Vortrags, aber Alagnas Stimme verfügt heute nicht mehr über die gebotene Leichtigkeit, um diese Vorgaben erfüllen zu können. Diese Anforderungen betreffen auch die „Sérénade de Don Juan“ von Peter Tschaikowsky und die „Élégie“ von Massenet, in der Stéphanie-Marie Degand an der Violine begleitet. Doch die Stimme Alagnas klingt spröde und strapaziert in der Höhe. Schließlich widmet er sich auch jenen italienischen Gassenschlagern, die von Caruso und Gigli über Domingo und Pavarotti bis zu Jonas Kaufmann alle renommierten Vertreter der Tenorgattung interpretiert haben. Da sind „Santa Lucia“ von Teodoro Cottrau, „Mamma mia che vo`sapè“ von Emmanuele Nutile, das ihm – bis auf den Schluss –  sehr schwärmerisch gelingt, „Mattinata“ von Ruggero Leoncavallo, das er mit Latino-Emphase vorträgt, und „Tu ca nun chiagne“ von Ernesto De Curtis. Letzterer Titel ist ein Vintage-Bonus von sehr historischem Klang, der wehmütig stimmt, erinnert er doch an Alagnas einstige glanzvolle Stimme mit strahlender Höhe und jugendlicher Verve.

Yvan Cassar am Pult des Orchestre National d’Île-de-France sorgt für einen flotten oder auch gefühlvollen Sound, welcher dem Charakter der bunt gemischten Platte gut ansteht. Cassar begleitet den Tenor in einigen Aufnahmen sogar am Flügel, was nostalgisch anmutet und an Carusos erste Trichteraufnahmen erinnert, die 1902 in einem Mailänder Hotelzimmer mit Klavierbegleitung stattgefunden hatten. Bernd Hoppe