Sagen wir mal so: Wenn man kein Deutsch kann, wenn man noch nie einen Kabarett-Lied auf einen Kästner- oder Tucholsky-Text gelungen serviert gehört hat, wenn man Wienerisch und Berlinerisch nicht als notwendige stilistische Beigabe bei den bekannten Liedern Georg Kreislers, Hermann Leopoldis oder Hanns Eislers erachtet und wenn man den Sound einer Band mit steifen drums und ohne Gespür für sinnfällige Dehnung und Beschleunigung mag, wenn man eine ruinöse, scharf vibrierende Opernstimme einer sprachgewandten, verführerischen Chansonettenstimme bei Kabarett- und Operettenliedern vorzieht, dann könnte man hier vielleicht richtig sein. Man muss dann nur noch ignorieren, dass nicht alles was hier als jüdisches Kabarett vereinnahmt wird auch tatsächlich daher stammt. Oder anders gesagt: die drei 2002, 2009 und 2014 erschienenen Sammlungen Dancing on the Edge of a Volcano. Jewish Cabaret, Popular, and Political Songs 1900-1945 (Cedille CDR 90000 065, 2 CD), Jewish Cabaret in Exile (Cedille CDR 90000 110, 1 CD) und As Dreams Fall Aparts. The Golden Age of Jewish Stage and Film Music 1925-1955 (Cedille CDR 90000 151, 2 CD) sind zwar sehr bemüht, ihr musikalisch-künstlerisches Ergebnis ist jedoch alles andere als überzeugend.
Gleich zu Beginn werden sechs Lieder von Edmund Nick auf Texte von Erich Kästner präsentiert. Trotz der sehr umfangreichen englischsprachigen Booklets ist den Machern entgangen, dass diese ursprünglich der abendfüllenden Radiokantate Leben in dieser Zeit (Breslauer Rundfunk 1929) entstammen, wo sie von einem großen Orchester begleitet werden und im Zusammenhang mit einer Geschichte stehen, die als typische Gegenwartsanalyse der Weimarer Republik zu sehen ist. Die CD ist jedoch dem Thema jüdisches Exil gewidmet. Damit haben weder Kästner noch Nick etwas zu tun (beide lebten während des Dritten Reiches in Deutschland), noch die in den zwanziger Jahren entstanden Texte oder die Musiksprache Edmund Nicks. Tatsächlich ist es so: Die Einzelveröffentlichung der Lieder in einer Sammlung mit Klavierbegleitung erfolgte 1931 wegen des enormen Erfolges von Leben in dieser Zeit, das als Bühnenwerk bis zur Verbrennung der Werke Kästners durch die Nazis große Erfolge im gesamten deutschen Sprachgebiet feierte und Kästners am meisten aufgeführtes Bühnenstück war. Es ist nur ein Beispiel für die schlechte – oder sollte man sagen: zu sehr auf das Thema jüdisches Exil fokussierte – Recherche dieser mit wissenschaftlichem Anspruch daherkommenden Edition.
Wenn man nun übrigens hören will, wie delikat und tiefgründig, wie zeitmalerisch und präzise diese Lieder sind, wie mioralisch tiefgreifend ihre satirischen Texte wirken können, dann greife man zur wunderbaren Einspielung des gesamten Werkes von Nick/Kästners Leben in dieser Zeit, die der Dirigent Ernst Theis 2010 im Rahmen seiner RadioMusiken Edition beim Osnabrücker Label CPO vorgelegt hat (cpo 777 541-2). Der Vergleich lohnt sich wirklich, denn sofort merkt man dass Ton, Tempo und Stilistik, den die Interpreten der Cedille-CDs treffen, weit von den Ideen und dem Ansinnen dieser Musik entfernt sind. Vergleichbares lässt sich für nahezu alle Stücke der Editionen zeigen, für die ohnehin bekannten Stücke Schönbergs und Eislers, die Operetten- und Filmlieder Kálmáns, Abrahams, Korngolds oder Holländers, aber auch für die bissigen Kabarett- und Unterhaltungslieder Leopoldis oder Kreislers.
Es scheint ohnehin so, als ob es keine klare Eingrenzung bei der Auswahl der Stücke gibt. Alles was jüdische Autoren hat kommt offenbar in Betracht und wird in langen Booklet-Texten stets in einen Kontext gerückt, bei dem die Naziherrschaft (ausgesprochen oder unausgesprochen) impliziert mitschwingt – tatsächliche Entstehungshintergründe und -anlässe werden dabei ignoriert. Nehme wir zum Beispiel Paul Abrahams Operette Die Blume von Hawaii (mit Texten von u.a. Alfred Grünwald und Fritz Löhner-Beda, die beide Opfer der Nazis wurden), die 1931 in Leipzig als typisches, im Grunde ziemlich harmloses Unterhaltungsstück der Weimarer Republik auf die Bühne kam, mit großer exotische Ausstattung, Revueelementen, amerikanischen Jazzeinflüssen und einer selbstironischen Komik, wie sie allerorts zwischen München und Hamburg zu erleben war. Die Blume von Hawaii kam aber nicht als jiddische Operette oder als Anklage antijüdischer Strömungen auf die Bühne. Dennoch suggeriert die Sammlung für dieses und vergleichbare Stücke genau solche einen Kontext. – Nicht verschwiegen sei, dass neben den deutschsprachigen auch einige wenige jiddische Nummern auf den CDs zu finden sind: weniges aus originär jiddischer Tradition wie von Mordechaj Gebirtig oder Abraham Ellstein (der übrigens Amerikaner war und keineswegs ins Exil musste, wie der CD-Titel, auf der sich sein Tif vi die Nacht befindet, vermuten ließe). Anders wie von Weill, Dessau, Milhaud, Wolpe oder Copland hingegen ist angeeignete jiddische Musiksprache und als Kunstlied konzipiert.
Man kann fast jedes der Lieder hören, die Julia Bentley mit ihrem Reibeisen-Mezzosopran ohne Fokus und sich abenteuerlich vibratös herumirrender Intonation zum Besten gibt, um zu merken, wie daneben diese Interpretationen sind. Man muss gar nicht die anspruchsvollen beiden Ullman-Lieder (Immer inmitten oder Vor der Ewigkeit) oder die beiden Brettl-Lieder von Schönberg bemühen, auch ein Operetten-Lied von Abraham oder späte Lieder von Friedrich Holländer reichen da schon aus. Was Julia Bentley mit ihrer auch sprachlich verwaschenen Operndiva-Attitüde nicht kaputt macht, singt mit schlechtem Deutsch der Bariton Stewart Figa (ein jüdischer Kantor aus der Nähe Chicagos), der mit seinem gelegentlichen Sprechgesang stilistisch schon näher an das richtige Servieren dieser Texte herankommt. Doch sein Deutsch scheint phonetisch gelernt, da stimmen Vokaledehnungen nicht, da verwischen Silben ins Unverständliche und da fehlt vor allem der so unverzichtbare Text-Musik-Bezug, der ein hintersinniges Spiel zwischen Interpret und Hörer erlauben würde. Bei beiden Gesangsinterpreten stimmt die Stilistik nicht und mangelt es an sprachlichen Fähigkeiten, so bleiben die Darbietungen allenfalls amateurhaft. Der angemessenen Wiederbelebung dieses Repertoires dienen sie so nicht. Begleitet wird das alles von einer kleinen Formation aus einem Violinisten, einem Kontrabassisten, einem Schlagzeuger und einem Pianisten (der auch für die meist schematischen, wenig inspirierten Arrangements zuständig zu sein scheint). Auf je einer der Sammlungen gesellt sich gelegentlich noch eine Flöte bzw. ein Akkordeon dazu. Alle Interpreten sind mit der University of Chicago assoziiert und nennen sich New Budapest Orpheum Society. Auch ihnen fehlt das Rechte Gespür für Timing und Agogik, für Dynamikabstufungen oder gezielte Finessen, zu gleichmäßig, zu überraschungslos wird ein Einheitssound über nahezu alles gezogen.
Aus der Perspektive eines nicht Deutsch sprechenden Amerikaners, für den die Sache, das Bewusstsein für eine jüdische Kompositionskultur im Vordergrund steht (aber was ist schon wirklich jüdische Kompositionskultur?), mag das alles ganz anders wirken. Und nur so sind diese über fünf Stunden an Aufnahmen zu erklären. Ein Problem bleibt dabei allerdings: Die meisten der Stücke sind viel besser, als sie hier wirken können.
Moritz Schön
(Und ganz grundsätzlich muss man einwenden, dass Komponisten jüdischer Herkunft nicht unbedingt „jüdisch“ komponiert bzw. sich alle als – wie hier suggeriert wird – „jüdisch“ empfunden haben. Männer wie Eisler hätten sich dagegen sehr verwahrt, der noch die DDR-Staatshymne schrieb – und die DDR war nun nicht wirklich philosemitisch. Es stellt sich also hier eher auch die Frage, was ist „jüdisch“ bzw. „jüdische Musik“? Gibt es die überhaupt? Leonard Bernstein hielt eine spannende Lecture über „Das Jüdische in der Musik Gustav Mahlers“ und meinte damit die osteuropäisch-folkloristischen Elemente aus den polnisch-russischen Ghettos, deutlich merkbar und bewusst eingesetzt. Aber enthalten Cabaret-Songs der Zwanziger diese Elemente? Nichts wäre Komponisten wie Abraham oder Hollaender oder Eisler konträrer gewesen. Was also ist „jüdisch“ in und an dieser Musik? Sie werden auf diesen CDs einfach nur für einen Zweck reklamiert. So wie es diese Dreier-Edition mit ihren wirklich schrecklichen Coverillustrationen tut, erfolgt sicher gegen den Willen bzw. die Lebenseinstellung vieler der hier aufgeführten Komponisten eine doppelte Diskriminierung durch diese Eingemeindung á la Jewish Claim. Die Tatsache, dass viele dieser Musiker verfolgt, umgebracht oder vertrieben wurden heißt ja nicht, dass sie sich nicht als Deutsche und als Juden empfunden haben, auch im Exil. Und es geht hier ja nicht um Klezmer, sondern um Kunstmusik in und aus einem bestimmten europäischen, historischen Zusammenhang. G. H.)