Peter Anders – Ein Stern in dunkler Zeit. In gut gemeinter Absicht wird dieses poetische Etikett dem Sänger nachträglich angeheftet. Als müsse eine Entschuldigung dafür her, dass seine beispiellose Karriere während des Nationalsozialismus begann. Wann denn sonnst? Anders, 1908 in Essen geboren, debütierte 1932 in Heidelberg, kam 1928 nach München und wurde im ersten Kriegsjahr 1939 an die Berliner Staatsoper berufen. Dort eilte er von Erfolg zu Erfolg. Er war ein Liebling des Publikums. Ich bezweifle stark, dass er – wie ein Stern – Licht in das düstere Dasein der Unterdrückten und Verfolgten bringen wollte. Das wäre in seinem Fall zuviel verlangt. Er wollte singen, sonst nichts. In der 10-CD-Collection von Membran (233506) sind etliche Aufnahmen aus seinen frühen Jahren zusammengestellt worden. Sie klingen flott, verbreiten gute Laune. Der Kanonendonner und die Schlachtfelder sind weit weg. Melodienfolgen aus Lehár Lustiger Witwe (1935) und Kálmans Csárdásfürstin (1934) sind dabei. In seinem jugendlichen Überschwang scheint Anders wie geboren für dieses Fach. Überhaupt ist Franz Lehár, der der heimliche Lieblinskomponist Hitlers war, auffällig stark präsent. Als Potpourris wurden Mitte der dreißiger Jahre lockere Zusammenstellungen mit Titeln wie Rendezvous bei Lehár oder Peter Anders bei Franz Lehár produziert. Verführerisch lockt das „Blaue Himmelbett„. Dazu wurden auch schon mal die Berliner Philharmoniker bemüht. Querschnitte durch Bettelstudent (gleich zweimal, 1934 und 1936) von Millöcker und Fledermaus von Strauß runden das ausgesprochen heitere Angebot aus „dunkler Zeit“ ab. Anders hat die richtigen Partnerinnen. Mit der Finnin Aulikki Rautawaara (Csárdásfürstin) und Erna Berger (Fledermaus) wirft er sich die musikalischen Bälle nur so zu.
Die auf zwei CDs verteilten Lieder sind ein Kapitel für sich. In der Mehrzahl wird Anders dabei von Michael Raucheisen begleitet. Aufnahmedaten lassen einen heute noch verwundert zurück – 1943, 1944 1945. Während Berlin in Schutt und Asche versank und die sowjetischen Panzer auf die Stadt zurollten, wurden in den Kellern des Funkhauses Lieder aufgenommen. Nicht nur mit Anders, der allerding sehr gut zu tun hatte. An der als Raucheisen-Edition erst nach dem Krieg veröffentlichten Sammlung wirkten an die fünfzig Sänger mit. Darunter einige, die Hitler und Goebels noch 1944 auf ihre so genannte „Gottbegnadeten-Liste“ gesetzt hatten. Das waren Künstler, die das Regime für unverzichtbar erachtete. Anders konnte seine Karriere nach Kriegsende rasch fortsetzen. Viel Zeit blieb ihm nicht bis zu seinem tragischen Tod 1954. Es waren seine wichtigsten Jahre, die Jahre der Reife. Sie sind bei der Auswahl gehörig berücksichtigt – auch mit dem Vorstoß auf neue Betätigungsfelder. Dazu gehörten der Stolzing in den Meistersingern und der Lohengrin.
Meine Liebe zum Gesang hat viele Namen, einer ist Peter Anders. Seit ich bewusst Musik köre, höre ich seine Aufnahmen. Auch wenn für diesen oder jenen Sänger im Laufe der Zeit die einst noch so heiße Begeisterung abkühlt, Anders ist immer präsent. Er hat seinen unverrückbaren Platz. Ich will mir überhaupt nicht vorstellen, wie es denn wäre, wenn es ihn nicht gegeben hätte. Nun hat es ihn aber gegeben, und das ist ein Glück für mich und für alle, die ihn ebenso lieben. Das Interesse an diesem Sänger mit der elementaren, unverkennbaren Stimme ist unverwüstlich. Peter Anders am besten zu gedenken heißt, seine Aufnahmen immer wieder neu aufzulegen und in großen Auflagen zu verbreiten. Seine Stimme ist nicht nur etwas für Kenner und kein Geheimtipp. Sie verträgt ein großes Publikum.
Das Label Membran hat sich bei der der Pflege seines Andenkens von niemandem überbieten lassen. Davon zeugt auch die Box Peter Anders – Die unvergessene Stimme mit ebenfalls zehn CDs (LC 12281). Es handelt sich um die in der Aufmachung etwas abgespeckte Wiederauflage der Ausgabe im stattlichen Buchformat gelegentlich des 100. Geburtstages des Sängers im Jahr 2008. Wozu Sammler Jahre brauchten, findet sich hier in beiden Editionen auf einen Schlag wohl geordnet beisammen. Dazu noch in sehr ordentlicher Tonqualität. Soll ich nun neidisch sein, dass hier dem Käufer so mir nichts dir nichts in den Schoß fällt, was ich nur mit Bienenfleiß und Hartnäckigkeit zusammen gebracht habe? Nein und abermals nein! Ich möchte nicht jene Glücksmomente vermissen, wenn einem plötzlich wieder ein lange gesuchtes Lied oder eine akustischer Filmauftritt in die Hände fiel. Mit diesen Boxen liegen weit mehr als die Hälfte aller 450 Titel vor, die Anders auf Tonträgern für Plattenmarkt und Rundfunk hinterlassen hat – und das zu sehr moderaten Preis. Die Boxen sind also kein Luxus von der Anschaffung her, sie sind Luxus durch Inhalt.
Anders überrumpelt seine Hörer mit unendlichem Charme genau so wie er sie mit schneidender Schärfe treffen kann. Es tut weh, wenn er etwa in der Winterreise (in der Edition findet sich die spätere Einspielung mit Günther Weissenborn) Zwiesprache mit seinem Unglück hält, das plötzlich zum Unglück aller Menschen wird, die ihm zuhören. Er ist niemals akademisch, er singt den Moment. Manchmal setzt er alles auf eine Karten, übermütig und strotzend vor Wagemut. Er ist stimmlich ein unerschrockener Tausendsassa. Seine Aufnahmen wirken nicht blutleer von zu vielen Proben. Sie sind knackig und voller Saft. Peter Anders – der Radioliebling, im Traumland der Operette, der Opern- und der Konzertsänger. In diesen Kategorien wird die Fülle dargeboten. Das macht Sinn und erleichtert den Zugriff, da es musikalisch kaum ein Revier gibt, in dem Anders nicht mit Lust und Können wilderte. Von Granada bis zu Othellos Tod, sein ganzes Repertoire ist ausgebreitet. Florestan, Lohengrin, Apollo, Bacchus, Faust, Tamino, Zarewitsch… Ich vermisse nichts. Ganz im Gegenteil, was immer ich von Peter Anders höre, es ist in diesem Moment mein Lieblingsstück. Und wenn es das Lied „Die Frau der Frauen“ ist, bei dem er gurrt wie Zarah Leander. Für mich ist er in allen Kategorien gleich gut aufgestellt und aufgelegt, weil er in der Praxis Musik nicht in Klassen oder Wertigkeit einteilt. Er verwendet auf den Filmschlager nicht weniger Mühe und Können als auf die Gralserzählung. Mir ist er dadurch sehr sympathisch. Anders gilt als Sympathieträger schlechthin. Nicht, dass er so einfach gute Laune verbreiten würde und für Stimmung im Saale sorgte. In seinem Falle wären das schon Unterstellungen. Dieser Sänger ist sympathisch, weil er Musik völlig unprätentiös und uneitel herüber bringt. Es geht nicht um ihn, es geht um das jeweilige Stück. Im Ensemble drängelt er sich niemals vor, er füllt seinen Platz aus und nimmt niemanden etwas weg, was er auch gar nicht nötig hätte.
Die Sensation von rund zwölf Stunden Musik, auf die es die Edition bringt, sind 28 (!) Sekunden Siegmund. „Wälse! Wälse! Wo ist dein Schwert? Dein starkes Schwert, das im Sturm ich schwänge?“ Mehr nicht. Die kurze Sequenz mit Klavierbegleitung (Hans Geisendörfer, der mit Anders im Unglücksauto saß, in dem ihn der Tod einholte) ist 1954 für den Schulfunk des Nordwestdeutschen Rundfunks Hamburg als Beispiel für das Sängerfach jugendlicher oder italienischer Heldentenor entstanden und auch gesendet worden, dann im Archiv gelandet. Anders hat die Rolle 1953 in Hamburg gesungen. Für einen Mitschnitt würde ich sonst etwas geben. Ich wäre auch gern ein gehöriges Stück älter, nur, damit ich ihn damals selbst hätte hören können in Wagners Walküre. Nun bin ich auf Ahnungen und diese wenigen Sekunden angewiesen. Auch wer nicht dabei war, die Stimme aber gut kennt, der war sich immer völlig sicher, dass Anders als Siegmund ein Ideal verkörpert haben muss. In den Wälse-Rufen ist etwas von Verzweiflung, etwas Flehendes. Dieser junge Mann ist kein sportlicher Schlagmichtot, er hat eine geschundene Seele. Er ist ein Verfolgter, ein Opfer. Seine Wunden, die er seiner Schwester Sieglinde weisen soll, hat er auch an der Seele. Anders hätte als Siegmund Musikgeschichte schreiben können. 28 Sekunden Musik reichen, dass einem plötzlich der Verlust wieder bewusst wird, den dieser sinnlose Unfalltod bedeutet. Rüdiger Winter