„Ein Dichter, der die Dinge nur halb ausspräche und mir ermöglichte, meine eigene Klangpoesie zur Dichtung zu fügen – der Gestalten schüfe, die an keine Zeitlichkeit gebunden sind – der die Szenen nicht eindeutig festlegte und mir die Freiheit ließe, noch mehr Künstler zu sein als er und sein Werk zu vervollkommnen. Er bräuchte keine Angst zu haben“, schreibt Claude Debussy nach seinen ersten Wagner-Erlebnissen, „Ich würde nicht in die Verirrungen des théâtre lyrique verfallen, wo die Musik sich unverschämt vordrängt, wo die Dichtung durch die schwere musikalische Rüstung an die Wand gedrängt und erdrückt wird. In der Oper wird zu viel gesungen. …. Man müsste mehr Unterschiede im Ausdruck machen. Manchmal ist es notwendig, grau in grau zu malen….“ In seiner Beschreibung eines musikalischen Theaters nach seinem Gusto unterstreicht Debussy nachdrücklich die Bedeutung der Dichtung für seine Musik. Anregungen bezog er zunächst von Baudelaire. Die noch ganz im Banne Wagners entstandenen 5 Poèmes de Charles Baudelaire zeigen „eine Sparsamkeit der Ausdrucksmittel“, die, so Heinrich Strobel, „auf künftige Lieder deutet. Nirgends herrscht der Zwang der zyklischen Form. Die Musik wächst aus der Dichtung heraus“. Dies gilt ebenso für die Lieder auf Texte von Verlaine, dessen Gedichte Debussy von den 4 Chansons de jeunesse über die beiden Bände der Fêtes galantes bis zu den Ariettes oubliées begleiten, aber ebenso auf alle Dichtungen, seien sie von de Musset, de Banville oder Mallarmé .
Die vier CDs Claude Debussy Intégrale des Mélodies bei Ligia (Lidi 0201285-14) regen zur neuerlichen Beschäftigung mit Debussys Liedern an, die zwischen 1876 (Nuits d‘ étoiles) und 1915 entstanden, als Debussy mit dem ungemein traurigen Noël des enfants qui n‘ ont plus de maison auf seinen eigenen Text sozusagen die Stimme versagte. Im Sommer 2012 trafen sich fünf Sänger im Musée Labenche in Brive-la-Gaillarde und nahmen sich dieser Lieder an. Die Sopranistinnen Liliana Faraon und Magali Léger, die Mezzosopranistin Marie-Ange Todorovich, der Tenor Gilles Ragon und der Bariton Francois Le Roux treten, zusammen mit Jean-Louis Hageuenauer an Debussys Blüthner-Flügel, dabei in die Fußstapfen der von Dalton Baldwin begleiteten Elly Ameling, Mady Mesplé, Michèle Command, Frederica von Stade und Gérard Souzay auf der EMI-Aufnahme von 1980. Im Gegensatz zu jener Einspielung ist die Bezeichnung Intégrale des Mélodies diesmal angebracht: die Box enthält bei einer Spieldauer von rund 5 Stunden 101 Titel, 42 mehr als die Vorgänger-Aufnahme, darunter unterschiedliche Versionen einzelner Lieder (auch unterschiedlichen Sängern zugeteilt) sowie 14 Ersteinspielungen. Dazu ein dickes Beiheft: also eine musikwissenschaftliche Glanzleistung. Künstlerisch wird man dabei nicht so glücklich, egal ob man Vergleiche mit der EMI-Einspielung oder zahlreichen Einzelaufnahmen anstellt. Die Fünf singen ein schönes, sensibles und auf der Musik schwebendes Französisch und werden von Haguenauer, dem spiritus rector des Unterfangens, ausgezeichnet begleitet, doch die Qualität der Stimmen dämpft das Vergnügen beträchtlich: Gilles Ragon, u. a. mit Fêtes galantes I und der Zweiten Fassung der Ariettes oubliées, klingt einfach dumpf, reizlos und abgesungen, François Le Roux, einst eine erste Adresse auf diesem Gebiet, steht ihm kaum nach. Trotz glitzernder Koloraturen und Höhen lässt uns Liliana Faraon wehmütig zum schlichteren Ausdruck der Elly Ameling zurückkehren, Marie-Ange Todorovich verdanken wir zahlreiche prägnante Bühnenfiguren, und auch bei diesen Liedern (u. a. Chansons de Bilitis und Trois mélodies sur des poèmes de Paul Verlaine) trumpft sie mit szenischem Raffinement auf, doch die Stimme ist inzwischen ein leidiges Instrument, so dass einzig Magali Léger auf der vokalen Habenseite bleibt.
Rolf Fath