Als Folge des romantischen Genie-Kults soll um 1820 in Paris die Legende entstanden sein, dass Salieri (1750-1825) den Tod Mozarts (1756-1791) herbeiführte. Puschkin erschuf mit seinem später von Rimski-Korsakow vertonten Drama Mozart und Salieri (1832) eine erste künstlerische Auseinandersetzung. Und erst recht nach Miloš Formans Film Amadeus (1984) nach dem gleichnamigen Theaterstück von Peter Shaffer rückte Salieri ins Zwielicht. Belegbar ist diese Hypothese nicht: Salieri dirigierte Messen von Mozart, zusammen komponierten sie die Kantate Per la ricuperata salute di Ofelia (1785), die als KV 477a verzeichnet und unglücklicherweise verschollen ist und Constanze Mozart ließ Sohn Franz Xaver von Salieri Klavierunterricht geben. Mozart und Salieri waren Kollegen – so auch der Tenor einer Ausstellung über Salieri im Wiener Mozarthaus 2014.
Das Musikkollegium Winterthur widmet nun Mozart und Salieri eine Doppel-CD, in dem beide Komponisten mit Werken verschiedener Gattungen gegenübergestellt werden: Opern-Ouvertüren (La Clemenza di Tito / Axur, Re d’Ormus, La Grotta di Trofonio), Orchestralmusik von Mozart (Adagio und Fugue KV 546, Ballettmusik aus Idomeneo, Sechs Ländlerische für 2 Violinen & Bass KV 606) sowie Arien aus Opern und Konzert. Die Zusammenstellung der Werke Mozarts und Salieris folgt dabei keinem musikwissenschaftlichem Plan, es werden keine neuen Zusammenhänge aufgedeckt oder gegenseitige Einflüsse deutlich. Vielmehr scheint es sich um ein fürs Konzert konzipiertes Programm mit sich ergänzenden Stimmungen und Kontrasten zu handeln, schön anzuhören, sehr gut gemacht und bestenfalls ein Beleg, wie stilistisch nahe sich Mozart und Salieri als komponierende Zeitgenossen in Wien waren. Mozarts Genie macht den Unterschied. Gegenübergestellt werden die Ausschnitte aus Salieris Opern deshalb nicht mit den maßstabssetzenden Werken Mozarts. Und so mögen einigen die Unterschiede verschwommen erscheinen, umso länger man der Doppel-CD zuhört und es könnte eine spannende Anregung sein, beim ersten Anhören sich nicht vorher über die Programmpunkte zu informieren, sondern einfach mal zu tippen, wessen Musik gerade erklingt. Es wird vielleicht dennoch kaum jemand Salieri mit Mozart verwechseln, umgekehrt dürfte es bei dieser Zusammenstellung eher erfolgen.
Als Sänger hat man mit der chinesischen Sopranistin Sen Guo aus dem Ensemble der Züricher Oper und Tenor Kenneth Tarver bekannte Namen; beide verfügen über bewegliche, höhen- und koloratursichere Stimmen, Tarver modelliert ein wenig nuancenreicher. Sehr gelungen ergänzen sich beide in den Duetten: „Spiegarti non poss’io“ aus Idomeneo und „Qui dove ride l’aura“ aus Axur, re d’Ormus erklingen in wunderschöner Innigkeit. Guo singt weiterhin zwei Einlagearien Mozarts für Opern Paquale Anfossis: „Mia speranza adorata – Ah, non sai quel pena sia“ (KV 416) für Zemira und das gefühlvolle, von der Oboe begleitete „Vorrei spiegarvi, oh Dio“ (KV 418) für Anfossis Il curioso indiscreto. Beachtenwert ist die von Tarver gesungene, von Flöte und Fagott einfallsreich begleitete Konzertszene „Misero! O sogno, o son desto?“ und die folgende Arie „Aura, che intorno spiri“ (KV 431) sowie „Non piu, tutto ascoltai – Non temer, amato bene“ (KV 490, aus der Wiener Aufführung des Idomeneo 1786). Salieri ist überwiegend mit Ausschnitten seiner bekanntesten Opern vertreten, z.B. den spannend vorgetragenen Sopranszenen „Come fuggir – Son queste le speranze“ aus Axur und „Ah! Lo sento“ aus L’Europa riconosciuta sowie „Ah vile – Or gli affanosi palpiti“ für Tenor aus Salieris origineller später Oper Falstaff, ossia Le tre burle. Die selten eingespielte Arie des Volpino „Augelletti che intorno cantate“ aus Der Rauchfangkehrer oder Die unentbehrlichen Verräter ihrer Herrschaften aus Eigennutz, die eigentlich ein Beispiel für Salieris Ausflug ins deutsche musikalische Lustspiel ist, wird von Kenneth Tarver italienisch dargeboten.
Das Orchester ist nicht auf Musik des Barock und Rokoko spezialisiert und wer Mozart und Salieri von einem aufregenden Originalklangorchester erwartet, wird hier nicht fündig. Dirigent Douglas Boyd und das Musikkollegium Winterthur musizieren ein inspiriertes Konzert, mehr geschmackvoll temperiert als aufregend, weder Kontraste noch Ähnlichkeiten überraschen. Das Beiheft erhält keine Informationen zum Programm; die Arientexte sind nicht beigefügt. (W.A. Mozart, A. Salieri: Arien und Ouvertüren, Sen Guo (Sopran), Kenneth Tarver (Tenor), Musikkollegium Winterthur; Douglas Boyd; 2 CDs, MDG 901 1897-6). Marcus Budwitius