Hermann Prey war Berliner. Beim Label Capriccio (C7202) erinnert er sich musikalisch an seine Heimatstadt – an den Frühling in Berlin, die Berliner Luft, die Linden, die Kleine Bank am Großen Stern, an die Spree, die immer noch durch Berlin fließt. Das war in Schöneberg – und nicht in Hohenschönhausen, wo der Sänger 1929 in der Oberseestraße zur Welt gekommen ist. Der Ortsteil, noch immer als „Platte“ verschrien, weil dort so viele DDR-Neubauten auf einem Haufen stehen, gehörte damals schon zu Groß-Berlin. Plattenbauten gab es noch nicht. Wo Prey aufwuchs, war und ist es noch heute schön grün, der Obersee gleich um die Ecke. Er dürfte diese Bilder immer vor Augen gehabt haben. Sonst würde nicht plötzlich ein Lied in dieser mit Große Berlin-Revue betitelten CD auftauchen, das da thematisch nicht hingehört. Es lächelt der See, komponiert von Friedrich Curschmann (1805 bis 1841) auf die einleitenden Verse zu Schillers Wilhelm Tell: Es lächelt der See, er ladet zum Bade, / Der Knabe schlief ein am grünen Gestade, / Da hört er ein Klingen, / Wie Flöten so süß, / Wie Stimmen der Engel / Im Paradies. / Und wie er erwachet in seliger Lust, / Da spülen die Wasser ihm um die Brust, / Und es ruft aus den Tiefen: / Lieb Knabe, bist mein! / Ich locke den Schläfer, / Ich zieh ihn herein.
In seiner Autobiographie Premierenfieber (1981 zuerst bei Kindler/ ISBN 978-3463008219 erschienen, dann bei dtv), findet sich die Kindheit genau beschrieben. Obwohl Prey von 1962 bis zu seinem Tod 1998 in Krailling, einem Vorort von München, lebte und auch dort begraben ist, hatte er immer einen Draht nach Berlin. Noch 1997 war er in die nun wieder vereinte Stadt gekommen, um bei einem Benefizkonzert in der Staatsoper für ein Kinderheim in Hohenschönhausen zu singen. Er wirkte hinter der Bühne angeschlagen. Aber als er auf das Podium trat, war er immer noch der Charmeur, der stimmlich nicht zu altern schien. Eine Verwandlung, an die ich mich sehr genau und sehr gern erinnere. Sie sagt viel aus über Künstlertum im Allgemeinen und Prey im Besonderen. Auf dem Programm stand Schuberts Schöne Müllerin. Den Liederzyklus beherrschte er auch im Schlaf.
Jene CD mit den alten Berliner Liedern aber, die 1988 im fernen Köln beim WDR eingespielt wurden, kommt viel zu spät. Solche Programme waren spätestens mit Marlene Dietrich, die sich noch im Alter gern an Berlin erinnerte, durch. Unter Preys musikalischen Zuckerguss entpuppt sich die Ware als altbacken. Er verfällt seiner eigenen Sentimentalität, kann keine ironische Distanz schaffen. Die aber wäre dringend nötig, um solche Lieder in die Gegenwart zu holen. Mit den Titeln auf der nächsten CD dieser Edition kann ich mich in der Interpretation von Prey auch nicht anfreunden, zumal Paul Kuhn mit seinem Ensemble den altmodischen Eindruck noch verstärkt. Das Telefon, das nachts ging, nehme ich Prey nicht ab. Den Bel Ami auch nicht, und warum bitte Müsste man Klavier spielen können? Dann doch lieber die Originale mit der Leander, Willi Forst oder Johannes Heesters.
Die drei verbleibenden CDs sind Hermann Prey pur, auch wenn sie weder Überraschungen noch Neuigkeiten oder Entdeckungen zu bieten haben. Endlich ist er in seinem Element. Die Ausschnitte aus der Capriccio-Gesamtaufnahme von Nesslers Trompeter von Säckingen mit dem Kölner Rundfunkchor und dem WDR-Rundfunkorchester unter Helmuth Froschauer von 1994 kommen zwar – was Preys Werner Kirchhofer anbelangt – mit dem frühen Electrola-Querschnitt aus dem Jahr 1958 nicht mit. Sie offenbaren aber genau das, was ich bei der Müllerin 1997 in Berlin wahrgenommen habe – die Fähigkeit des Sängers, seinen Bariton jungendlich und geschmeidig zu halten.
Noch heute sehe die die Langspielplatte German Romantic Opera vor mir, die 1983 in Bratislava produziert wurde. Der österreichische Dirigent Kurt Wöss war dazu ins Nachbarland gereist und hatte Prey mitgenommen. Es wirkten der Chor und die Philharmonie von Bratislava mit. Das Programm war deutsch, urdeutsch: Conradin Kreutzer, Albert Lortzig, Richard Wagner. Mit dem Fliedermonolog aus den Meistersingern von Nürnberg versuchte Prey wenigstens mit dieser einen Szene im Studio Sachs gegen den üblichen Beckmesser zu tauschen, was bei dieser Szene sogar ganz gut gelingt. Betörend schön in ihrer großen Ruhe und liedhaften Innigkeit finde ich nach wie vor die drei Szenen des Wolfram aus dem Tannhäuser.
Schließlich darf auch der Liedinterpret nicht fehlen. Prey hat dieses Genre sein Leben lang mit großem Erfolg bedient und sogar eine eigene umfängliche Edition herausgebracht, die vom Minnegesang bis zur Moderne reichte. Sie hätte eine Neuauflage eins zu eins verdient. Capriccio hat Lieder von Ludwig van Beethoven, darunter die Ferne Geliebte, Johannes Brahms und Carl Loewe entschieden. Von Loewe brachte Prey im Laufe seiner Karriere gleich mehrere Platten bzw. CDs heraus. Er hat neben Dietrich Fischer-Dieskau einen wichtigen Beitrag geleistet, um einen neues Zugang zu diesem Komponisten zu finden. Erlkönig, Der Fischer, Der Totentanz und Der Zauberlehrling einer Capriccio-CD entlehnt, die ausschließlich Lieder und Balladen nach Texten von Goethe enthielt. Goethe war einer der bevorzugten Dichter von Loewe. Rüdiger Winter