In strahlender Siegerpose mit blendendem Gebiss präsentiert sich Franco Fagioli auf dem Cover seiner neuen CD bei der DG (4838358), die dann auch passend den Titel Veni Vidi Vinci trägt. Das letzte der drei Worte verweist aber auch auf den Komponisten, dem das Programm dieser Einspielung gewidmet ist: Leonardo Vinci. Er lebte von 1690(?) bis 1730 und zählt zu den Meistern der Neapolitanischen Schule, die sich vor allem dem canto fiorito, also dem virtuosen Koloraturgesang, widmeten.
Der argentinische Countertenor knüpft mit dieser Aufnahme, die im März 2019 im italienischen Lonigo entstand, an seinen spektakulären und wahrlich sieghaften Auftritt als Arbace 2012 in Vincis Artaserse an, der von seiner damaligen Plattenfirma Virgin auch auf CD dokumentiert wurde. Das Programm der neuen Platte mit 14 Titeln, darunter sieben Weltpremieren, bringt Arien aus acht verschiedenen Werken. Als Auftakt wählte der Solist zwei Arien aus Il trionfo di Camilla, uraufgeführt 1725 in Parma mit der Starsopranistin Faustina Bordoni in der Titelrolle. Deren beide Arien sind von allerhöchstem Anspruch an den Interpreten: In der ersteren, „Sembro quell’usignolo“, von Fanfaren sieghaft eingeleitet, vergleicht sich die als Hirtin verkleidete Königin mit einer Nachtigall – mit entsprechend virtuoser Herausforderung. Schon hier besticht der Interpret mit brillanten Koloraturläufen und lieblichen Trillern. In der zweiten, „Più non so finger sdegni“, bekennt die Königin nach Rückeroberung ihres Reiches in einer lieblichen Pastorale, dass sie sich nicht an ihren Feinden rächen werde. Dies bietet dem Sänger Gelegenheit für empfindsam-weiche Töne und innigen Ausdruck.
L’Ernelinda kam 1726 in Neapel zur Premiere mit Carlo Scalzi als Vitige. Im Recitativo accompagnato „Ove corri?“ und der nachfolgenden Arie „Sorge talora“ zweifelt er an der Treue seiner geliebten Ernelinda. Entsprechend der Situation klingt die Stimme im Rezitativ stärker vibrierend, was den erregten Zustand der Figur widerspiegelt. Die Arie aber lässt Fagiolis Organ in purer Schönheit erstrahlen, welches darüber hinaus mit mirakulösen staccati aufwartet.„Nube di denso orrore“ ist erfüllt von Hoffnung, was sich im schmeichelnden Stimmklang ausdrückt. Mit der Arie des Rosmeno aus dieser Oper, „Sull’ali del suo amar“, stellt Fagioli nicht nur eine zweite Figur aus diesem Werk vor, sondern bietet auch ein weiteres bravouröses Glanzstück, welches seine geradezu unwirkliche stimmliche Geläufigkeit demonstriert. Vinci verwendete das Stück ein Jahr später in seiner in Rom erstaufgeführten Oper Gismondo re di Polonia wieder, wo es von Giacinto Fontana (genannt „Farfallino“) in der Rolle der Cunegonda gesungen wurde. Hier erklingen zwei Arien, die eigens für dieses Werk geschrieben wurden: „Nave altera“ und „Quell’usignolo“. Erstere ist eine der häufig anzutreffenden Gleichnisarien, in welcher König Primislao gleich dem Sturme zwischen seiner Friedensliebe und einem politischen Stolz schwankt. Mit erregten Koloraturgirlanden wird diese Situation musikalisch geschildert – eine Nummer, wie für Fagioli geschaffen. In der zweiten, komponiert für den Kastraten Filippo Balatri, evozieren Blockflöten Vogelstimmen, was dem Interpreten Gelegenheit für kunstvolles Zierwerk bietet.
„Gelido in ogni vena“ ist eine im Barock mehrfach anzutreffende Arie, auch Vivaldi hat diesen Text (in seinem Farnace) vertont. Bei Vinci findet sich die Arie in der 1726 in Venedig uraufgeführten Oper Siroe re di Persia. Damals sang der Tenor Giovanni Paita die Rolle des Königs Cosroe. Die von Fagioli interpretierte Version ist im Sopranschlüssel notiert, was darauf schließen lässt, dass die Partie bei anderer Gelegenheit auch von einem Kastraten gegeben wurde. Die Komposition malt im Orchester plastisch aus, wie dem entsetzten Herrscher das Blut in den Adern gefriert. Der Solist zeigt sich souverän in der Beherrschung der langen Bögen und des tiefen Registers.
Das Programm wird ergänzt um die Arie „Barbari mi schernisci“ aus La Rosmira fedele (Venedig, 1725), in welcher Arsace über das abweisende Wesen der Prinzessin Rosmira klagt. Nach der Uraufführung mit Carlo Scalzi sang das Stück im selben Jahr auch Senesino in der Oper Elpidia. In diesem expressiven, mit schmerzenden Akkorden des Orchesters eingeleiteten Lamento bietet Fagioli ein mit stärkstem Nachdruck deklamiertes Psychogramm. Schließlich ist die Arie des Titelhelden, „Vil trofeo d’un alma imbelle“ aus Alessandro nell’Indie zu hören, der in der Saison 1729/30 am römischen Teatro delle Dame mit Raffaele Signorini in der Titelrolle herauskam und zusammen mit Artaserse zu Vincis letzten Werken für die Opernbühne zählt. Der Komponist starb unerwartet und früh, möglicherweise als Opfer eines Racheanschlags. In der Arie hat der Sänger Gelegenheit, mit der auftrumpfenden Trompete in einen virtuosen Wettstreit zu treten, bei dem man keinen Sieger, aber auch keinen Verlierer ausmachen kann.
Die beiden letzten Titel stammen aus der 1728 in Parma erstmals aufgeführten Oper Medo und waren der Rolle des Giasone zugeordnet, die der Starkastrat Farinelli interpretierte. In „Scherzo dell’onda instabile“ geht er auf einem schiffbrüchigen Kahn unter großen Gefahren an Land. Farinelli übernahm die Arie 1729 auch in Leonardo Leos Catone in Utica nach einem Libretto von Metastasio, welches Vinci bereits ein Jahr zuvor vertont hatte. Die Komposition verlangt dem Interpreten alles ab an virtuosem Vermögen, erinnert in ihrem Duktus an Arbaces Bravour-Nummer „Vo solcando un mar crudele“ aus dem Artaserse, mit der Fagioli bei den Aufführungen 2012 in Nancy das Publikum zum Sieden gebracht hatte.„Sento due fiamme in petto“ schildert den zwischen Medea und seiner neuen Flamme Enotea schwankenden Giasone, der nicht weiß, dass Letztere die verkleidete Medea ist. Fagioli, dem das Ensemble Il Pomo d’Oro unter der Leitung seiner Konzertmeisterin Zefira Valova ein bewährter und kompetenter Partner ist, muss hier kein Feuerwerk an Bravour bieten und beendet das Programm dennoch in wahrhaft sieghafter Manier mit betörend schönen Tönen. Bernd Hoppe