Es ist schon wieder mehr als zwanzig Jahre her, dass die Aufnahmen italienischer Arien mit Jon Vickers bei VAI auf CD erschienen sind. Höchste Zeit also, sie wieder auf den Markt zu bringen. Die Initiative hat Preiser Records ergriffen (PR 93489). Gut so. Eigentlich bin ich ein Verfechter der Eins-zu-eins-Übernahme des Originals, das es einst auch als Langspielplatte gab. Das garantiert die ursprüngliche konzeptionelle Absicht und dokumentiert den Zustand der Stimme zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt. Preiser schienen die ursprünglich vierundvierzig Minuten LP-Länge wohl zu mickrig und legte noch gehörig drauf. Darf es ein bisschen mehr sein? Wenn es denn sein muss, darf es. So wurde die Arienfolge, die im Juli 1961 von der RCA in Rom mit dem Orchester des dortigen Opernhauses unter Tullio Serafin eingespielt wurde, mit Ausschnitten aus Studio-Gesamtaufnahmen anderer Werke aufgefüllt, die – und das spricht dafür – etwa zur gleichen Zeit entstanden sind wie die Arien-Platte: der monströse Messiah (Thomas Beecham, RCA 1959), Fidelio (Otto Klemperer, EMI 1962), Samson et Dalila (Georges Pretre, EMI 1962), Aida (Georg Solti, Decca 1961/1962) sowie Walküre (Erich Leinsdorf, Decca 1961).
Im Gegensatz zu den einzelnen Arien sind diese ergänzenden Bonus-Aufnahmen in den letzten Jahren ohne großen Aufwand zu beschaffen gewesen, wenn sie nicht ohnehin in den meisten Plattenschränken stehen. Zwar sind die Anfänge und Schlüsse gut geschnitten, so dass der Gedanke an Entnahmen aus Gesamtaufnahmen gar nicht erst aufkommt. In den meisten Fällen ergeben sich die makellosen Schnitte ohnehin aus den Werken, wo es an der richtigen Stelle Generalpausen gibt. Preiser hat – und das spricht wieder einmal für das Label – ausdrücklich die Herkunft aus Gesamteinspielungen ausgewiesen. Stückwerk ist es trotzdem. Das musikalische Ereignis bleiben ohnehin die italienischen Arien und Szenen aus La Gioconda, Don Carlo, L’Arlesina, Pagliacci, Andrea Chénier, Tosca, Il Trovatore und Otello.
Wie ein Fremdkörper hat sich die ebenfalls italienisch gesungene „Ach so fromm“-Arie aus Martha darunter gemischt – groß und schwer gesungen wie das übrige Programm. Bei Vickers klingt eben alles etwas anders. Das machte ihn berühmt, das machte seinen Eigenwert aus. Dadurch polarisierte er auch – bis heute. Für mich ist dieser kanadische Tenor, die 1926 geboren wurde, ohne Alternativen nicht vorstellbar. Habe ich eine seiner Aufnahmen gehört – und ich höre sie immer wieder gern – verlangt es mich sofort nach einer anderen mit einem anderen Sänger. Ich habe stets das Gefühlt, dass man das, was Vickers vorträgt, eigentlich anders singen müsste. Dennoch bin ich nie los gekommen von ihm.
Rüdiger Winter