Französische Rundfunkarchiv-Funde

Da scheint das Institut national de l’audiovisuel, kurz INA, dieses Mal aber besonders tief in den Archiven gesucht zu haben. So tief, dass auf der Francis Poulenc gewidmeten Doppel-CD mit Rundfunkaufnahmen in einem Fall Interpreten und Aufnahmedaten nicht überliefert und auch nicht mehr rekonstruierbar sind. Vier Uraufführungen (Stabat Mater, Sonate pour flûte et piano, La Dame de Monte Carlo und L’Histoire de Babar in der bekannten Orchesterversion von Jean Françaix) und acht bislang unveröffentlichte Aufnahmen, sowie einige Komponisteninterviews, die Poulenc als eloquenten und die Moderne klug reflektierenden Künstler zeigen, liegen damit erstmals auf Tonträger vor. Alle Dokumente sind Rundfunkmitschnitte, die zwischen 1946 und 1963 entstanden sind und in durchaus divergierender Aufnahmequalität für zwei randvolle CDs sorgen. Das nur französischsprachige Beiheft führt das, was sich an Informationen noch auffinden ließ zusammen und gibt kurze Hinweise zu den Umständen der Werk- und Aufnahme-Entstehungen.

Einige Raritäten erscheinen zum ersten Mal auf CD. Denise Duval ist als Ideal-Interpretin in einigen der melodiés zu erleben, die Poulenc für sie komponiert hat, darunter Ausschnitte aus dem wenig bekannten Zyklus La courte Paille. Rosana Carteri ist mit einem kurzen, 1962 in Versailles festgehaltenem Ausschnitt aus den Dialogues des Carmèlites (mit Poulenc als Klavierbegleiter) zu erleben. Der junge Jean-Pierre Rampal eröffnet die Kompilation mit der dreisätzigen, bis heute gut bekannten Flötensonate, deren Uraufführungsinterpret er war. Von besonderem Interesse ist sicherlich der Mitschnitt der Uraufführung des Stabat Mater unter Fritz Münch vom Juni 1951 aus Strasbourg, der zeigt wie fordernd die Musiksprache Poulencs damals war. Nicht alles gelingt, vor allem der Chor kämpft mit Intonation und rhythmischer Präzision. Ohnehin wird einem beim Hören dieser Live-Dokumente immer wieder bewusst, wie sehr Poulenc, trotz seiner eingängigen Melodieführungen und der rhythmischen Einprägsamkeit seiner Ideen, als Avantgardist wahrgenommen wurde. Diese Sammlung ist eine ideale Ergänzung zur Ende der 1990er Jahre erstmals erschienenen EMI-Edition, die es mittlerweile als preiswerte 20 CD-Box gibt. Die Atmosphäre einer ‘Neuen Musik’, die diese zeitgenössischen Aufnahmen aus den Frühphasen der jeweiligen Rezeptionsgeschichte der Werke atmet, trägt viel zum Verständnis Poulencs bei, dessen Status als ‘Klassiker der Moderne’ vor über einem halben Jahrhundert noch nicht zwingend absehbar war. (IMV 092)

danco 2 inaNach einer ersten Suzanne Danco en concert betitelten CD, die vor allem die Breite ihres Repertoires zeigte, ist nun in der Reihe INA, mémoire vive eine weitere Hommage an die belgische Sängerin erschienen, die sie mit drei zentralen Werken des französischen Repertoires des 20. Jahrhunderts im Zusammenspiel mit dem Orchester präsentiert: Suzanne Danco 2. Eric Saties neo-klassizistisches, etwas verkopftes drame symphonique Socrate (Rom, 5. April 1954 unter der musikalischen Leitung von Darius Milhaud), über eine halbe Stunde Ausschnitte aus Debussys Pelléas et Mélisande in einer der zahlreichen Inghelbrecht-Aufnahmen (hier der frühe Rundfunkmitschnitt aus dem Théâtre des Champs-Élysées vom 29. April 1952) und Ravels Shéhérazade (aus Aix vom 24. Juli 1950 unter Charles Munch). Livemitschnitte, durch den französischen und italienischen Rundfunk überliefert, die vor allem die interpretatorischen Qualitäten der Sängerin zeigen. Sie konnte mit ihrem warmen, individuellen Timbre, dem leichten Vibrato und dem sicheren Tiefenregister, eine bewusste Gestaltung zwischen nüchterner, fast neutraler Darstellung (Satie), leidenschaftlicher, expressiver Aufladung (Debussy) und schlanker Zurückgenommenheit (Ravel) anbieten, ohne dabei artifiziell zu wirken oder ein gewisses poetisches Momentum zu verlieren. Die Diktion ist exemplarisch, die Lesarten haben – nicht nur im Falle ihrer Paraderolle, der mehrmals aufgenommenen Mélisande, – Referenzcharakter. Das Beiheft zur Edition, dieses Mal mit englischer Übersetzung, berichtet sehr anschaulich von den Aufnahmeumständen und Suzanne  Dancos Bezügen zu den Werken (IMV059).

Moritz Schön