Im Rückblick erweist sich die Bindung von Ernst Haefliger an die Deutsche Grammophon, das älteste Klassiklabel der Welt, als Glücksfall. Diese Zusammenarbeit hat es ermöglicht, dass die Karriere des schweizerischen Tenors, der am 6. Juli 1919 in Davos zur Welt kam und dort am 17. März 2007 auch starb, in ihrem zentralen Zeitraum dokumentiert ist. Derselbe Geburts- und Sterbeort verheißt Verbundenheit und Verwurzelung. Insofern will es passen, dass er seine wichtigsten Aufnahmen bei nur einer Firma machte. Sie hat ihn anlässlich seines hundertsten Geburtstages mit einer Edition geehrt, die dieses Lebenswerk auf zwölf CDs zusammenzufassen versucht (483 7122). Ob es geglückt ist, wird jeder, der diese Ausgabe erwirbt, für sich entscheiden. Etwas fehlt bekanntlich immer. Anderes ist überflüssig, weil gleich in mehreren Alternativen vorhanden. Mein Eindruck ist durchwachsen.
Erstmals machte Haefliger 1949 auf einer internationalen Bühne auf sich aufmerksam. Bei der von Ferenc Fricsay betreuten Uraufführung von Carl Orffs Antigonae am 9. August in der Salzburger Felsenreitschule sang er den blinden Propheten Tiresias, wenige Tage zuvor, nämlich am 27. Juli an eben diesem Ort, den ersten Geharnischten in der Zauberflöte, die Wilhelm Furtwängler dirigierte. Beide Werke haben sich als Mitschnitte der Radioübertragungen erhalten. Fricsay war nachhaltig beeindruckt von Haefliger. Er hatte seinen Tenor gefunden. „Zwischen den beiden entwickelte sich eine enge künstlerische Partnerschaft“, bestätigt Michael Haefliger, der Sohn des Tenors im Booklet. Bis zu seinem frühen Tod 1963 betraute ihn der Dirigent mit zahlreichen Aufgaben. Auch Fricsay hatte sich an die Grammophon gebunden. 1952 gingen sie erstmals gemeinsam für die Produktion des Fliegenden Holländer in die zum Studio umfunktionierte Berliner Jesus-Christus-Kirche. Haefliger sang den Steuermann: „Mit Gewitter und Sturm aus fernem Meer…“ Das Lied, das zu Wagners populärsten Erfindungen gehört, wurde für die Edition aus der Gesamtaufnahme herausgelöst. Anfang und Ende sind gut abgetrennt, so dass es den Anschein hat, es handele sich um ein Einzelstück. Dieser Eindruck wird durch Haefligers Interpretation noch verstärkt. Er gestaltet die Szene tatsächlich wie ein Kunstlied, das für sich allein steht – ohne musikdramatischen Zusammenhang. Was er darüber hinaus zu singen hat in der Oper wirkt denn nach meiner Beobachtung auch etwas unbeholfen. In seiner Unverwechselbarkeit ist das Timbre bereits voll ausgeprägt. Daran würde Haefliger bis zum Ende seiner langen Karriere stets zweifelsfrei zu erkennen sein. Die Höhe ist offen und frei. Mitunter wirkt der Aufstieg in die oberen Lagen etwas angestrengt. Zwei Nummern aus Massenets Manon von 1962, die etwas unvermittelt auf den Holländer folgen, entfalten ihre betörende Wirkung denn auch eher in der Mittellage, während in der Arie des Chapelou aus Adams Postillion von Lonjumeau „Freunde, vernehmet die Geschichte“ als CD-Erstveröffentlichung die extremen Spitzentöne nur unter größten Anstrengungen hervorgebracht werden. Haefliger bringt den Mut auf, seine Grenzen öffentlich auszutesten. Beide Szenen waren zuerst auf einer von Ernst Märzendorfer geleitetet Arienplatte erschienen. Sie enthielt auch Fentons „Horch die Lerche singt im Hain“ aus Nicolais Lustigen Weibern von Windsor, für die Edition nebst dem Duett mit Anna „Fenton! Mein Mädchen!“ (Catarina Alda) aber aus einem Querschnitt durch die Oper entliehen, den Hans Löwlein dirigierte.
Es hätte sich angeboten, einzelne Platten, die meist nur noch antiquarisch zu finden sind, in ihrer Gesamtheit in die Edition aufzunehmen. Das gilt auch für die lediglich teilweise berücksichtigte von Karl Richter betreute LP mit Arien von Bach und Händel. Dadurch wäre der Anreiz, sich diese Neuerscheinung zuzulegen, womöglich noch größer. Sammler wissen dokumentarische Akribie zu schätzen. In solche Einzelheiten geht das Booklet nicht. Es finden sie zwar alle relevanten Daten zu den einzelnen Werken und Stücken, es werden Produzenten und Tonmeister genannt, was hoch zu schätzen ist. Schließlich haben diese Herren, die meist im Hintergrund blieben, erheblichen Anteil am Gelingen von Einspielungen. Ihr Beruf war zumindest damals eine strenge Männerdomäne. Sind einzelne Arien oder Szenen wie der Holländer-Steuermann Gesamteinspielungen entnommen, bleibt das Begleitheft diese Hintergrundinformation schuldig. Warum eigentlich? Wer sich für solche Zusammenhänge interessiert, muss durch die eigenen Bestände gehen, sein Gedächtnis befragen oder selbst recherchieren.
Überhaupt stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist, sich bei den kompletten Operneinspielungen zu bedienen. Operngesamtaufnahmen, in denen Haefliger mitwirkte, sind oft aufgelegt worden, zuletzt kompakt in einer großen Edition für den ungarischen Dirigenten Ferenc Fricsay. Sie wären am ehesten verzichtbar gewesen. Dennoch gibt es eine ganze CD mit Auszügen aus Zauberflöte, Entführung aus dem Serail und Don Giovanni. Für Ferrando aus Cosi fan tutte wurde auf die Einspielung unter Eugen Jochum zurückgegriffen. Introduktion und Arie des Florestan sowie das Duett „O namenlose Freude“ mit Leonore (Leonie Rysanek) aus Beethovens Fidelio werden ebenfalls ohne Verweis auf die berühmte Gesamtaufnahme mit Fricsay zwischen einzelne Arien geklemmt. Der Florestan ist ein Sonderfall für Haefliger. Er hat ihn nie auf einer Bühne gesungen. Offenbar kam es ihm und seinem Dirigenten darauf an, die Dramatik bei allem Verzicht auf äußere Effekte zu verinnerlichen und ganz nahe an die Hörer heranzuführen. Unter den Bedingungen einer Theateraufführung wären diese Feinheiten in der Gestaltung, dieser lyrische Grundduktus kaum zu realisieren. Diesmal finden sich die besonderen Umstände und die Einzigartigkeit der Produktion auch im Booklet erklärt. Autorin Susanne Stähr geht sogar so weit, Haefligers Rollenporträt als „die vielleicht überzeugendste Florestan-Interpretation“ zu nennen, die „es überhaupt gibt. Er deutet den ausgemergelten, desillustrierten Gefangenen, der am Ende seiner Kräfte ist und Hoffnung allenfalls noch im Fieberwahn schöpft, gerade deshalb so ergreifend , weil er auf heldisches Pathos und Stentortöne verzichtet“. Er habe es nicht „nötig, seine prächtiges Stimmmaterial vorzuführen – es stellte sich ganz uneitel in den Dienst des Dramas und der Figur“.
Nicht nur gewisse Opernszenen – zu nennen wären auch noch Arien aus deutsch gesungenen Querschnitten von Rossinis Barbier von Sevilla und Verdis La Traviata – führen in der Edition ein Dasein als Stückwerk. Besonders krass ist die Reduzierung von Mahlers Lied von der Erde mit dem Concertgebouworkest Amsterdam unter Eugen Jochum auf die dem Tenor vorbehaltenen drei Nummern. Händels Messias, 1964 von Karl Richter in deutscher Sprache eingespielt, besteht nur noch aus zwei Arien nebst Rezitativen. Eine vollständige Fricsay-Einspielung von Rossinis Stabat Mater wurde mit der berühmten Tenor-Arie „Cujus animam gementem“, die den Schmelz vermissen lässt, und dem etwas erdenschweren Quartett „Sancta mater, istud agas“, zu dem sich Maria Stader, Marianna Radev und Kim Borg einfinden, beliehen. Detektivischer Spürsinn und Geduld sind gefragt, um die auf einer CD versammelten fünfzehn Arien und Rezitative aus Werken von Bach ihren Quellen zuzuordnen. Auch sie führen zu diversen vollständigen Einspielungen sowie zur großen Kantatensammlung der Archivproduktion, die aus 26 CDs besteht. Lediglich die Kantate Ich armer Mensch, ich Sündenknecht kommt ungeschoren davon, weil sie mit Haefliger nur einen Solisten hat. Auch Bruckners Te Deum unter Jochum, das von Rafael Kubelik betreute Tagebuch eines Verschollenen sowie von Janácek und als einzige Liveaufnahme Zoltán Kodálys Psalmus hungaricus mit Fricsay als Dirigent von 1959 bleiben unangetastet. Sowohl der Tscheche Kubelik und als auch der Ungar Fricsay hatten sich aus gutem Grund dazu entschlossen, die Werke ihrer Landsmänner Janácek und Kodály, die ihnen besonders am Herzen gelegen haben dürften, in deutscher Fassung darzubieten. Sie sollten nämlich vom Publikum, für das sie eingespielt bzw. aufgeführt wurden, auch verstanden werden.
Mit insgesamt sieben CDs bilden Lieder die größte Abteilung der Edition. Sie wird mit Schuberts Schöner Müllerin, begleitet von Jacqueline Bonneau, aus dem Jahr 1959 eröffnet. Es folgt die Winterreise, die zehn Jahre später mit Michio Kobayashi am Klavier in Tokio für die Deutsche Grammophon eingespielt wurde. Daran schließt sich der erst nach Schuberts Tod postum zusammengestellte Schwanengesang an, für den 1965 Erik Werba als Begleiter zur Verfügung stand. Drei Jahre zuvor nahmen beide auch Schumanns Dichterliebe und Beethovens Ferne Geliebte auf. Mir wurde allenthalben deutlich, dass Ernst Haefliger seine sängerischen Stärken in Liedern am besten entfalten konnte. Insofern ist die Gewichtung der Edition zugunsten dieses Genres angebracht. Erscheint die Berliner Pianistin Hertha Klust (1907 – 1970) am Flügel, ist dies wie bei Dietrich Fischer-Dieskau zugleich ein Hinweis auf Aufnahmen aus den fünfziger Jahren. Von zunehmender Schwerhörigkeit geplagt, zog sie sich als Liedbegleiterin relativ früh zurück. 1956 spielten sie Schubert und Brahms, 1959 Schumann, Schoeck, Kodály und Wolf ein, in der Edition auf zwei CDs verteilt. Für mich sind sie die Schatzkammer der Edition. Haefliger klingt sehr sanft und in sich gekehrt. Er lässt die Töne schweben. Die Höhe ist gut eingebunden, der Atem so perfekt kontrolliert, dass die einzelnen Phrasen – getragen vom Klavier – nahtlos ineinander gehen. Bei Schuberts „Jüngling an der Quelle“ lassen die Tasten die Pappeln wallen und flüstern. Selten habe ich das Zusammenspiel von Sänger und Begleitung in solcher Vollendung wahrgenommen wie in der „Waldeinsamkeit“ von Brahms und in den Liedern von Wolf, darunter „Auf einer Wanderung“ und „In der Frühe“. Dass in Mono aufgenommen wurde, gerät zur Nebensache, weil die Kunst über die Technik triumphiert. Rüdiger Winter