„Bunt sind schon die Wälder, / gelb die Stoppelfelder, / und der Herbst beginnt. / Rote Blätter fallen, graue Nebel wallen, / kühler weht der Wind.“ Das ist die erste Strophe eines Liedes, das jeder von uns kennen dürfte. Es ist ein Volkslied geworden. Popsänger haben es gesungen, Chöre, Kinder und natürlich Günter Wewel und Hermann Prey. Da ist auch Anneliese Rothenberger nicht weit. In einer ihr gewidmeten EMI-Box von 1995 findet sich das Lied vorsorglich gleich mit aufgenommen, obwohl es statt ihrer von einem Chor vorgetragen wird. Immerhin. Sie hätte es aber singen können. Es passt zu ihr und sie zu ihm. Und gibt es auch einen Komponisten? Den gibt es.
Johann Friedrich Reichardt, geboren 1752 in Königsberg, gestorben 1814 in Giebichenstein, das heute zu Halle gehört. Auf dieses Jahr fällt also sein 200. Todestag am 27. Juni, der vergleichsweise leise verstrich. Hier und da ein Artikel im Feuilleton, im Leipziger Mendelssohn-Haus gibt es eine Ausstellung, doch Halle ist zur musikalischen Ehrenrettung eines der tüchtigsten deutschen Komponisten angetreten. Das ist sehr verdienstvoll und wird hoffentlich nicht ohne Folgen bleiben. Reichardt hat Sinfonien, Konzerte, Kammermusik, Singspiele und Opern, darunter Erwin und Elmire sowie an die 1500 Lieder komponiert und ist auch als Schriftsteller und Musikkritiker hervorgetreten. Ein reichhaltiges Werk also, das weitgehend unerschlossen ist und auf seine Erweckung wartet. Dietrich Fischer-Dieskau war einer der ersten Sänger, der Reichardts Bedeutung erkannte. Seine Aufnahme von Liedern mit Harfenbegleitung bei Orfeo ist noch zu haben.
Nun hat Reinaldo Dopp Reichardt für sich entdeckt. Der in Halle wirkende Tenor, der sich bisher vor allem mit Bach und bei den Händel-Festspielen hervorgetan hat, erarbeitete gemeinsam mit dem Pianisten Albrecht Hartmann 60 Lieder. 22 wurden für eine CD-Produktion ausgewählt, die unter dem Titel Geliebte Lieder in Halle eingespielt wurde und beim Label Klanglogo erschienen ist (KL 1510). Beide Künstler sind auch live mit dem leicht modifizierten Liedprogramm der CD aufgetreten. Das Ergebnis ist beeindruckend. Ich habe die CD mehrfach gehört, von Mal zu Mal wird sie einem vertrauter. Die Melodien gehen umso leichter ins Ohr, weil auch die Textvorlagen – vielfach Goethe, der Reichardt schätze – dazu angetan sind, schneller hängen zu bleiben als Verse von Majakowski. Nähe vermittelt Reichardt auch dadurch, dass er sich Gedichte vorgenommen hat, die ihre eigentliche Bedeutung als Lieder erst später durch Franz Schubert erlangten – „Erlkönig“, „Der Musensohn,“ um nur zwei Beispiele zu nennen. Es bringt allerdings nichts, Reichardt mit Schubert zu vergleichen und gegeneinander aufzurechnen. Das Pendel schlüge schon deshalb zu Schuberts Gunsten aus, weil der zu mehr Tiefe gelangte indem er die Melodie durch ein breites Ausdrucksspektrum erweiterte.
Reichardt soll – wie es heißt – vornehmlich zum Zwecke häuslicher Erbauung komponiert haben. Seine Lieder sind schlicht durch eine gewisse Gradlinigkeit, die auch die Verbindung zum eingangs zitierten Volkslied herstellt. Dopp interpretiert nicht mehr hinein, wie sich das bei Fischer-Dieskau angedeutet findet. Er ist mir dadurch lieber. Sein heller, vorzüglich gebildeter und sehr gut sitzender Tenor scheint genau richtig zu sein für diesen Komponisten. Das von Hartman gespielte Fortepiano, ein Hammerklavier, unterstreicht die Wirkung mehr als ein dunkler Konzertflügel. Ich wünsche dieser CD eine möglichst große Verbreitung. Sie hat es verdient.
Rüdiger Winter