Altes und Neues aus der Goldenen Stadt

 

Prag-Besuchern wird das stolze Gebäude an der Moldau schwerlich als ein Tempel der Gesangskunst in Erinnerung bleiben. Vielleicht ändert sich durch einen Blick in die Geschichte die Perspektive. Weit zurück in die 1950er Jahre. Damals war Zdenĕk Otava (1902-80) der Bariton-Star des Nationaltheaters, an dem er am 1. Mai 1929 debütierte und schier unglaubliche 43 Jahre lang bis Ende 1972 auftrat und als Vladislav in Dalibor seinen Bühnenabschied gab. Ausgebildet vom Bohumil Benoni, seinem Vorvorgänger am Haus, und Riccardo Stracciari in Rom, hatte er 1925 in Ostrau als Jago seinen ersten Bühnenauftritt. Nachdem er dort den Barbier, Scarpia (neben Destinn) und Onegin gesungen hatte, wechselte er für vier Jahre nach Brünn, wo er sein Repertoire um Germont, Holländer, Escamillo, Orest und Don Giovanni erweiterte, in Opern von Smetana, Dvorák, Foerster und Novak sang und 1929 den Baron Prus in der Sache Makropulos kreierte (in Prag sang er u. a. in den Uraufführungen von Martinus Julietta). Im Kern war damit sein Repertoire fixiert, das er auch in Prag übernahm: ein Kavaliersbariton, vermutlich Säule des Ensembles für das italienische, deutsche und tschechische Fach, alles in allem 160 Partien in 3000 Aufführungen. Von einer Hommage, wie die von Arcodiva aufbereitete Ausgabe (UP 0158-2 603, mit lesenswertem Beiheft in Englisch und Tschechisch), hätten manche Sänger der Epoche nur geträumt: Auf zwei CDs ist, beginnend vom Figaro-Grafen über den Barbier, Tell, Malatesta, Rigoletto, Luna, Germont, Jago, Renato, Tonio Scarpia bis Onegin, ein Großteil des Personals versammelt, das Otava verkörperte, dazu Figuren aus Smetanas Brandenburger in Böhmen, Das Geheimnis, Dvoráks Armida, Fibichs Der Sturm, Hedy und der erst im Vorjahr erstmals in Deutschland gezeigter Braut von Messina, sowie neuere Opern von Karel Kovařovic, Vitĕzslav Novák und Iša Krejċi. Die klaren und direkten Aufnahmen stammen größtenteils aus den frühen 50er Jahren, der Rigoletto von 1967 zeugt, bei geschwundenen Mitteln, immerhin noch prägnante Charakterisierungskunst und klugen Umgang mit den imposanten Stimmresten. Man braucht nur einen Moment, um sich an den tschechischen Klang zu gewöhnen, doch dann entsteht eine Galerie prägnanter Bilder. Aus allen Arien und Duetten schlägt uns sozusagen das pralle Theater entgegen, unverwechselbar, genau umrissen, eigenwillig und stark. Otava verfügt, wie auch Stracciari, über keine überbordende Stimme, besitzt aber bei schön durchgebildeter höhensicherer Stimme die seltene Fähigkeit durch kluges Phrasieren, dynamische Schattierungen und prononcierten, lebendigen Ausdruck Gestalten entstehen zu lassen und so etwas wie Spaß und Freude zu vermitteln. Selbst der Jago, sicherlich eine Grenzpartie für den eher leichten Bariton, gerät zur beklemmenden Studie. Er hält den Hörer bei der Stange. Seine Partnerinnen sind als Gilda, Rosina und Norina Maria Tauberová (1911-2003), die ein Jahr nach Otava ihren Abschied vom Nationaltheater nahm, als Leonora und Tatjana Ludmila Dvoráková (1923-2015), deren Gatte Rudolf Vasata u. a. das Onegin-Duett dirigiert, – unter den weiteren Dirigenten finden wir auch Jaroslav Krombholc – sowie, ebenfalls als Tatjana, Ludmila Cervinková (1908-80), die Marenka von Karel Ancerls schöner Verkaufter Braut von 1947. Doch damit nicht genug: Auf einer zusätzlichen DVD befindet findet sich als interessantestes Dokument des Singschauspielers Otava ein Ausschnitt aus Václav Kašliks Makropulos-Film, in dem Otava 40 Jahre nach der UA nochmals den Prus (neben Kniplová als Emilia) übernahm. Außerdem einige nicht ganz so sehenswerte Arien-Aufzeichnungen aus dem tschechischen Fernsehen und informative private Schnipsel, darunter der 70jährige Otava – offenbar im heimischen Wohnzimmer – behände mit „Largo al factotum“ (hier zeigt sich die Stracciari-Schule) sowie als Pianist, der Dvoráková bei „Vissi d’arte“ begleitet. Dazu frühe Opernaufnahmen aus den 1940er Jahren (u.a. Dalibor, Libuse, Der Kuss, Die Teufelswand, Der Jakobiner und Foersters Debora) und als spätes Dokument die Biblischen Lieder von Dvorák. Die Fotogalerie zeigt auch die große optische Wandlungsfähigkeit des Sängers. So will man das.

 

stefan margita tears and smiles arcodivaZurück in die Gegenwart. Nur kurzeitig gehörte der 1956 im ostslowakischen Kosice, der Kulturhauptstadt von 2013, geborene Štefan Margita 1986-91 dem Prager Nationaltheater und später der Staatsoper an, bevor er seine internationale Karriere verfolgte. Tears und Smiles, der Titel seiner im Dezember 2005 und Januar 2006 im Palais Liechtenstein auf der Prager Kleinseite aufgenommen CD (Arcodiva UP 0084-2131), bezieht sich auf den gleichnamigen Zyklus von Mikuláš Schneider-Travsky (1881-1956), der ein Schulfreund Kodalys war und sich den slowakischen Volksliedern mit spätromantischem Zugang näherte und nach Gründung der Tschechoslowakei einen bedeutenden Anteil an der Ausbildung einer slowakischen Musik hatte. Sein 1912 veröffentlichter Zyklus Tears and Smiles op. 25, dem ein Großteil der hier versammelten Lieder entnommen ist, stammt aus den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts. Etwa aus den gleichen Jahren wie die Magyar Népdalok, die ungarischen Lieder, des gleichaltrigen Béla Bartók, die hier mit Harfenbegleitung erklingen, an die man sich zuerst gewöhnen muss. Margitas Tenor ist nicht unbedingt schön, aber gefällig, und er meistert die Lieder mit Musikalität und Ausdruck; der leicht weinerliche Ton lässt die Lieder melancholischer klingen, als sie vielleicht gedacht waren. Bei einem kleinen Zyklus der Sylvie Bodorová (*1954) für zwei Stimmen, Klavier (Katarina Bachmannova) und Harfe (Katerina Englichová) steht ihm seine slowakische Landsmännin Gabriela Beňaċková zur Seite, die in vier Liedern eine Ahnung von der einstigen Schönheit ihrer Stimme vermittelt. Beňaċková hatte ihr Debüt am Nationaltheater übrigens 1970 als Natascha in Krieg und Frieden neben Otava gegeben.

 

Anda-Louise Bogza arcodivaEine feste Größe am Nationaltheater und der Staatsoper ist seit 1992 die Rumänin Anda-Louise Bogza, über deren umfangreiche Prager Auftritte das zweisprachige Beiheft ihrer CD mit Liedern von Glinka, Chopin, Dvorák, Tschaikowsky und Rachmaninoff (Arcodiva UP 0159-2 131) den Leser etwas im Unklaren lässt. Die in Bukarest und Prag ausgebildete Bogza singt mit starker, zupackender Stimme, wobei die vielen Abigailles und Turandots Kerben in den dunklen, dabei höhensicheren Sopran geschlagen haben, der sich dynamische Feinheiten versagen muss. Bogza trat international als Leonora, Tosca, Lady Macbeth, Aida, Rusalka und fremde Fürstin auf, ist heute aber anscheinend vor allem in Prag zu hören. Die Verbundenheit mit ihrer neuen Heimat zeigt sich daran, dass Dvoráks ihrem Temperament entsprechenden Zigeunerlieder op. 55 besonders gut gelungen sind. Als Begleiter wechseln sich bei der 2012 entstandenen Aufnahme Marcel Javorcek und Galina Aleshkevich am Flügel ab.

 

Eva Garajová  arcodivaUngeahnte Repertoirelücken schließt die Mezzosopranistin Eva Garajová. Neben Tschaikowsky (aus seinen Romanzen op. 6, 28, 47, 57 und 60), den vier Liedern Im Volkston op. 73 und den vier Liedern op. 82 von Dvorák sowie den Vier ernsten Gesängen von Brahms hat die Sängerin für ihr 2 CD-Programm drei wenig oder gar unbekannte Komponisten auf ihren Aufnahmeplan im Palais Liechtenstein gesetzt (2 CD Arcodiva (UP 0151-2 302, Beiheft in engl. und tschech. Sprache): Štefan Németh-Šamorínsky (1896-75), der u.a. bei Bartók studierte, stammte aus dem ungarisch sprechenden Teil der Slowakei und vertonte 1942-44 u.a. sechs Gedichte des ungarischen Dichters Endre Ady. Vladimir Sommer (1921-97) lehrte Musikwissenschaft an der Karlsuniversität, gehörte trotz seines schmalen Oeuvres zu den bedeutenderen tschechischen Komponisten nach dem Zweiten Weltkrieg und wählte für seine 1981 entstandenen Sieben Lieder für Mezzosopran u.a. Gedichte von Alexander Blok und Rainer Maria Rilke. Bekannter ist Eugen Suchoň (1908-93), u.a. durch seine Oper Krútňava, der während seiner Prager Studienzeit 1932 den Zyklus Nox et solitudo op. 4 komponierte, den Garajová auch als Titel ihres von Marian Lapsanský begleiteten Programms wählte. Ihr Mezzosopran ist nicht groß, doch in allen Lagen sanft ausgebildet, sie singt mit Geschmack und Musikalität und es gefällt, dass die Liedtexte im Beiheft zweisprachig wiedergegeben sind. Garajová hatte ab 1995 an der damals noch eigenständigen Prager Staatsoper gesungen, die 2012 mit dem Nationaltheater zusammengelegt wurde, und scheint sich nun auf Konzerte und den Liedgesang zu konzentrieren. Rolf Fath