Alles ist Ausdruck

Lotte Lehmann - Radio-Days in the USALotte-/Lehmann-Legue

Lotte Lehmann – Radio-Days in the USALotte-/Lehmann-Legue

Diese Box ist zwar im Gedenken an den 125. Geburtstag von Lotte Lehmann erschienen – sie kam am 28. Februar 1988 im brandenburgischen Perleberg zur Welt -, als Sängerin und Künstlerin ist sie jedoch zeitlos. Bei ihr frage ich mich nie, wie alt sie denn nun eigentlich geworden wäre. Die Lehmann war und ist immer präsent, durch ihre hohe musikalische Meisterschaft und durch ihre Aufrichtigkeit. In dunkelster Zeit hat sie dem von den Nationalsozialisten beherrschten Deutschland demonstrativ den Rücken gekehrt. Schriftsteller von Rang flochten ihr Kränze, Thomas Mann nannte sie „Frau Sonne“, weil sie Licht und Helligkeit verbreitete, wo immer sie in Erscheinung trat. Die größten Dirigenten versicherten sich ihrer Mitwirkung. Mir sind solche Gedenktage am Ende doch willkommen, weil sie Anlass zu Neuerscheinungen wie dieser geben.

Lebenspartner - Lotte Lehmann und Frances Holden/Lotte-Lehmann-League

Lebenspartner – Lotte Lehmann und Frances Holden/Lotte-Lehmann-League

Das Label Music & Arts hat eine sehr umfangreiche Sammlung von 112 Arien und Liedern, verteilt auf vier CDs vorgelegt (CD-1279). Biographisches Material und Fotos finden sich auf einer zusätzlichen CD-ROM, was Druckkosten für ein aufwändigeres Booklet spart. Dafür muss man sich mit einer spartanischen mehrseitigen Trackliste begnügen, die wenigstens die Aufnahmedaten verzeichnet. Die meisten Dokumente sind hinlänglich bekannt und auch in anderen Kompilationen auf den Markt gekommen, zuletzt in einer mehrteiligen Sammlung bei Naxos, die auch hohe akustische Standards setzte. Dahinter braucht sich Musik & Arts nicht zu verstecken. Der Sound klingt warm und samtig, mitunter ein bisschen trocken –  ganz so wie die Stimme der Sängerin selbst.

Immer noch erhältlich: Die gültige Biographie von Allan Jefferson

Immer noch erhältlich: Die gültige Biographie von Allan Jefferson

Wer sich mit der Diskographie der Lehmann beschäftigt, braucht ein gutes Gedächtnis, gute Ohren und gute Augen sonst verliert man schnell die Übersicht zwischen den Listen und Booklets. Stabil in ihrem enormen Umfang ist die Gruppe der Studioproduktionen. In diesem Rahmen gibt es – und das zeigt auch diese Sammlung – wenig Bewegung. Indessen sind aus privaten Archiven immer mal wieder unbekannte Mitschnitte und Rundfunkproduktionen hinzugekommen. In den USA, wo die Lehmann die zweite Hälfte ihres langen Lebens verbrachte (sie emigrierte 1938 nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland), waren die technischen Voraussetzungen für Aufnahmen auch unter schwierigen Bedingungen hervorragend. Gut zwei Drittel der Nummern entstanden in Übersee – also nach 1939. „Stehe still“ – eines der fünf Wesendonck-Lieder von Richard Wagner ist bisher nicht aufgetaucht. Es fehlt folglich auch in der neuen Edition, die aber die berühmten vier anderen Lieder nach Gedichten von Mathilde Wesendonck enthält. Komplett ist der Zyklus nach jetzigem Stand der Dinge offenbar nicht überliefert. Nach wie vor am aussagekräftigsten ist die Diskographie in der Biographie von Alan Jefferson, die im Schweizer Verlagshaus erschien und auch noch zu haben ist (ISBN-10: 3726366326). Mehr als zwanzig Titel der Box sind als CD-Erstveröffentlichung ausgewiesen. Opernszenen bilden mit lediglich drei Nummern – Rosenkavalier, Ariadne auf Naxos, Lohengrin – die Ausnahme. Der Dirigent Bruno Walter, dem die Lehmann herzlich verbunden gewesen ist, steuert ein kurzes Statement bei, die Künstlerin tritt zweimal auch als Rezensentin auf.

Lotte Lehmann und ihr Lied-Begleiter Paul Ulanowsky/Clarion/Lotte-lehmann-Legue

Lotte Lehmann und ihr Lied-Begleiter Paul Ulanowsky/Clarion/Lotte-Lehmann-League

Das Gros sind Lieder, hauptsächlich von Hugo Wolf, Johannes Brahms, Richard Strauss, Franz Schubert, Felix Mendelssohn Bartholdy, Wolfgang Amadeus Mozart. In zwei Varianten ist Beethovens „Freudvoll und leidvoll“ neben „Die Trommel gerührt!“ aus der Schauspielmusik zu Egmont zu hören. Die Reihenfolge der Titel richtet sich nach den Aufnahmedaten. Das am 10. Juli 1949 eingespielte Lied „Botschaft“ von Brahms – zugleich eine der Erstveröffentlichungen – bildet den zeitlichen Abschluss. Dafür muss in Kauf genommen werden, dass die Ordnung nach Komponisten – wie ich sie schätze – nicht optimal ist. Wie schön wäre es gewesen, auch die komplette Winterreise in der Sammlung zu haben, die seit Jahren vergriffen und zurzeit nur ganz schwer aufzutreiben ist. Sammler sind eben nie zufrieden.

Die Lehmann – auch das ein Aspekt der Box – hat bekanntlich um ausgesprochene „Männerlieder“ keinen Bogen gemacht. Außer der Winterreise hat sie die Schöne Müllerin eingespielt. Berücksichtigt wurden Beethovens An die ferne Geliebte und in Teilen die Dichterliebe. Persönlich halte ich nicht sehr viel von derlei Okkupationen, wie es denn auch unvorstellbar wäre, dass sich ein Sänger an „Gretchen am Spinnrade“ vergreift. Wenn ich der Lehmann dennoch gern einen Ausnahmestatus zubillige, dann liegt das an ihrer Stimme und an der Art ihres Vortrags. Sie singt diese Lieder nicht als Betroffene mit dunkler Bruststimme. Sie, die große Gestalterin, vermittelt die Geschichten und Situationen, die in den Liedern stecken. Damit macht sie den Geschlechterunterschied beiläufig, bestehen bleibt er allemal.

Lotte Lehmann - "Du holde Kunst"/Lotte-Lehmann-League

Lotte Lehmann – „Du holde Kunst“/Lotte-Lehmann-League

Mitunter verliert sich ihre Stimme in Grenzbereiche, die außerhalb der Musik liegen. Und doch ist diese seltsame und hoch individuelle Gemengelage kein eigentlicher Sprechgesang – nachzuhören beispielsweise in Schuberts Liedern  „Der Tod und das Mädchen“ und „Auflösung“ (beide vom 10. Februar 1946). Alles wird Ausdruck, die mitunter knappe Höhe fällt gar nicht erst ins Gewicht. Was bei jeder anderen Sängerin als Defizit anzumerken wäre, wirkt bei ihr als Steigerung des künstlerischen Bemühens, die Dinge auf den dramatischen Punkt zu bringen: So und nicht anders! Mir scheint, die Lehmann gestaltet primär vom Wort her. Nicht, dass sie Musik als Vehikel benutzt. Nein, das nun wirklich nicht. Vielmehr bringt sie beides zusammen. Wort und Musik haben in etwa den gleichen Stellenwert. Bei der Beschäftigung mit dieser Edition ist mir einmal mehr klar geworden, warum sich Menschen singend mitteilen müssen, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt.

Rüdiger Winter

Lotte Lehmanns Grab auf dem Wiener Zentralfriedhof/Foto Purdy

Lotte Lehmanns Grab auf dem Wiener Zentralfriedhof/Foto Christopher Purdy

 

Die obigen Fotos der späten Lotte Lehmann stammen vom Blog der hochverdienstvollen Lotte Lehmann League!