„Ach, ich bin des Treibens müde!“

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„Sie haben heut‘ Abend Gesellschaft und das Haus ist lichterfüllt. Dort oben am hellen Fenster bewegt sich ein Schattenbild.“ Drunten aber, im Schutze der Nacht, steht ein Mann. Lauernd und einsam. Verdruckst. Die heimlich Angebetete bemerkt ihn nicht. Wie auch? So einer fällt nie auf. Ein tiefes Seufzen entfährt seiner Brust: „Noch weniger kannst du schauen in mein dunkles Herz hinein.“ Hans Pfitzner trifft auf Heinrich Heine. Der Komponist ist um die zwanzig, als er das Lied in Noten setzt, der Dichter schrieb es mit fünfundzwanzig. Veröffentlicht wurde das Gedicht im Buch der Lieder, jener berühmten Heine-Sammlung die 1827 in erster Ausgabe erschien. Sie war zumindest in Teilen Schulstoff und stand in jedem Bücherschrank. Nun kann sie auch auf dem Handy im Internet gelesen werden.

In einer neuen Gesamtaufnahme der Lieder von Hans Pfitzner bei Naxos findet sich das Lied, dem Heine keine Überschrift gab, in Vol. 4 (8.573082). Sein Titel ist die erste Zeile. Der literarische interessierte und gebildete Komponist machte also frühzeitig Bekanntschaft damit. Pfitzner kam 1869 zur Welt. Da war Heine erst dreizehn Jahre tot. Die Leiden des Dichters dürften auch seine eigenen gewesen sein. Für mich ist das Lied wie kaum ein anderes typisch für Pfitzner. Er lässt mit den Worten Heines tief in sein Innerstes blicken, erkennt darin Züge seines eigenen Wesens. Pfitzner gab sich grüblerisch und verschlossen, agierte gern aus dem Hintergrund und suchte die geistige Nähe zu den Nationalsozialisten.

In seinem Buch Heroische Weltsicht, das 2014 im Böhlau-Verlag (ISBN 978-3-412-22247-5) herausgekommen ist, kann Sebastian Werr Pfitzner keine Sympathien abgewinnen. Seinen Angaben zufolge biederte der sich 1933, im Jahr der Machtergreifung, schriftlich bei Hitler mit dem Verlangen an, Aufführungen seiner Opern zu besuchen und nannte gleich konkrete Termine. Hitler ging nicht darauf ein, weil er nicht viel ihm hielt. Schon 1923 waren sich beide in München begegnet, vermerkt Werr. Dabei habe Pfitzner die Ansicht vertreten, dass „beim Antisemitismus Ausnahmen für jüdische Mitbürger zu machen seien, die eine nationale Gesinnung haben und die kulturell bedeutsam sind“. Dadurch sei Hitler anscheinend auf den Gedanken gekommen, Pfitzner könne selbst jüdische Wurzeln haben, die er verschleiern wolle. Werr: „Die von Pfitzner erhoffte Karriere im ,Dritten Reich‘ musste schon deshalb ausbleiben, weil Hitler die Zuneigung des Komponisten nicht erwiderte.“ Wer sich mit Hans Pfitzner und seinem Werk beschäftigt, sollte auf solche biografischen Tatsachen gefasst sein und sich damit auseinandersetzen. Seine Bedeutung als Komponist reduzieren sie nicht.

In der Naxos-Edition singt der Bariton Uwe Schenker-Primus das Lied „Sie haben heut‘ Abend Gesellschaft„. Er hat am meisten zu tun, gestaltet zwei CDs allein, außer Vol. 4 auch Vol. 5 (8.573785). Insgesamt sind das zweiundvierzig von 117 Liedern, die im Jahre 2008 im Schlossbergsaal des SWR-Landesstudios Freiburg eingespielt wurden. Schenker-Primus, Jahrgang 1974, hat beim Windsbacher Knabenchor Singen gelernt. Solche musikalische Grundausbildung wirkt fort. Inzwischen bedient er alle Genres auf dem Musiktheater. Am Nationaltheater Weimar, wo er zum Ensemble gehört, gibt er den Conférencier im Musical Cabaret, in Carmen den Moralès. Seine Stimme ist geschmeidig und wortverständlich. Besagtem Lied gibt er die verlangte Steigerung, schließt am Ende aber etwas über das Ziel hinaus, indem für die dramatische Zuspitzung, die an Schuberts Doppelgänger erinnert, kaum noch Reserven bleiben. Der Vorrat ist zu schnell verbraucht. Dann klingt die Stimme nicht eigentlich mehr schön, was aber auch gewollt sein kann. Mit einer Minute und sechsundvierzig Sekunden ist das Lied vergleichsweise kurz. Pfitzner genügt das, um dieses kompakte Seelendrama aus der nur scheinbar fröhlichen Tanzmelodie, die von den hell erleuchteten Fenstern zu dem Mann im Dunkeln dringen, zu entfalten. Wir hören am Lautsprecher, was er hört.

„Bezeichnenderweise gibt es gerade bei Pfitzner häufig Lieder, die aus einem primären Grundgestus heraus das Ganze erfassen“, vermerkt Reinhard Ermen, der als Theaterwissenschaftler über Pfitzner promovierte, in einem der Booklets. Das sei ohne Zweifel „romantisch“ gedacht. Ermen: „Pfitzner ist einer, der Brahms, vor allen Dingen aber Schumann weiterdenkt.“ Dass am Gelingen des gesamten Unterfangens der Pianist Klaus Simon, der bei sämtlichen Liedern begleitet, seinen ebenbürtigen Anteil hat, versteht sich von selbst. Simon wirkt nicht nur als Pianist. Er ist auch Dirigent und Arrangeur. Seine künstlerischen Schwerpunkte sind die klassische Moderne und Komponisten der Zweiten Wiener Schule.

Ein Titel im Programm von Schenker-Primus sticht schon wegen seiner ungewöhnlichen Ausmaße und seiner langen Überschrift heraus: Lied Werners aus dem „Trompeter von Säckingen“, Behüt‘ dich Gott. Es entstand 1885 und entstammt dem gleichnamigen Sang vom Oberrhein, in welchem der Dichter Joseph Victor von Scheffel in Versform die Lebensgeschichte von Franz Werner Kirchhofer (1633-1690) aus Säckingen erzählt. Der Sohn bürgerlicher Eltern ehelichte über alle gesellschaftliche Schranken und Widerstände hinweg die Adlige Maria Ursula von Schönau. Mit ihren fünf Kindern lebten sie in Säckingen. Der musikalisch begabte Franz Werner stieg zum einflussreichen Handelskaufmann, Ratsherr und Schulmeister auf und stand auch dem Knabenchores im St. Fridolinsmünster vor.

Mit dem 1853 entstandenen Versepos traf Scheffel wenige Jahre nach der 48er Revolution den Nerv seiner Zeit und landete einen enormen literarischen Erfolg, der sich im Laufe der folgenden Jahre noch steigerte. 1882 hatte Der Trompeter von Säckingen die hundertste, 1914 die dreihundertste Auflage erreicht. Diverse Vertonungen mehrten den Ruhm, der bis in die Gegenwart vor allem durch die Oper von Victor Ernst Nessler (1841-1890) nachwirkt. Nessler hatte den Stoff vergleichsweise frei bearbeitet und Werners Lied um die mittlere Strophe gekürzt in die Handlung einbezogen. Pfitzner bedient sich am Original, wo es separiert als Teil einer eingeschobenen Liedersammlung erscheint. Er komponierte auch das Mittelstück, in dem von „Leid, Neid und Hass“ die Rede ist. Bei Pfitzner klingt es nicht so gefällig und einschmeichelnd wie bei Nessler, doch auch nicht so bitter wie zu erwarten gewesen wäre. Dafür umso enttäuschter: „Behüt‘ dich Gott! Es wär‘ zu schön gewesen, / Behüt‘ dich Gott, es hat nicht sollen sein.“ Schenker-Primus jedenfalls gelingt mit dem Lied stimmlich einer seiner besten Leistungen, weil er nicht gegen Extreme ansingen muss.

Die Musikwissenschaft hat herausgefunden, dass Lieder das eigentliche Wesen von Pfitzner sind. Selbst aus den Musikdramen ist diese Erkenntnis herauszuhören. Sein Hausgott als Dichter war Joseph von Eichendorff, was sich mengenmäßig aus dem Liedschaffen nicht zwingend ablesen lässt, schließlich aber in der großen Romantischen Kantate Von deutscher Seele beredten Ausdruck findet. Uwe Schenker-Primus singt mit zehn Stücken die meisten Eichendorff-Lieder, darunter den aus fünf Teilen bestehende Zyklus op. 9. Dem kanadischen Tenor Colin Balzer wurden auf seiner CD 2 (8.572603) fünf Eichendorf-Lieder übertragen. Er singt sie mit schön fließender Mittellage, die auch seine Stärke ist. Etwas knapp, nicht selten grell, fällt die Höhe aus. Er klingt jung. Balzer kommt von der Barockmusik, weshalb Pfitzner für ihn eine ganz spezielle Herausforderung dargestellt haben dürfte, die er auf seine Weise professionell besteht. Eichendorff ist auch schon auf der ersten CD (8.573602) anzutreffen, die von der Sopranistin Britta Stallmeister bestritten wird. Sie hat Der Bote aus Drei Lieder Op. 5 im Angebot, zudem das Lied Sonst aus Op. 15. Während sie die erstgenannte Gruppe komplett singt, ist es bei der anderen nur die Nummer 4. Damit offenbar sich eine editorische Eigenart. Nicht alle Liedgruppen sind beieinander. Op. 15 – um bei diesem Beispiel zu bleiben – ist über drei CDs verteilt. Man muss also ganz genau durch die relativ kleingedruckten Tracklisten gehen, um ganz sicher zu sein, dass nichts fehlt. Bei der Konkurrenz ist das sinnvoller gelöst. cpo hat seine Lieder-Edition von Pfitzner streng nach Werkgruppen organisiert, was den Umgang damit leichter macht.

Alte Weisen, op. 33, bleiben unangetastet. Dazu beruft sich Booklet-Autor Ermen ausdrücklich auf den Pfitzner-Experten Johann Peter Vogel. Der habe mit Nachdruck darauf verwiesen, dass „diese acht Vertonungen von Gedichten Gottfried Kellers den einzigen Lieder-Zyklus in Pfitzners Werk bilden“. Zwar gebe es noch andere Opera „in denen ein Textdichter bzw. eine Textdichterin Einheit schafft“. Pfitzner habe aber selbst darauf hingewiesen, dass die Teile „als Ganzes durchaus zusammen“ gehörten und nur „zusammen in dieser Reihenfolge vorzutragen“ seien. „Zum anderen legt die Dramaturgie der Kontraste und der einvernehmlichen Übergänge von Lied zu Lied den Zusammenhang nahe“, so Ermen. Wer sich die Lieder anhört, ohne vorher einen Blick ins Booklet getan zu haben, kommt ganz von selbst darauf, dass sich Pfitzner mit diesem Zyklus von Hugo Wolf herausgefordert gefühlt habe. Britta Stallmeister bringt diesen Aspekt wirkungsvoll in ihre Interpretation ein, indem sie einen regelrechten Wettgesang zwischen beiden Komponisten entfacht. Als wolle Pfitzner sagen, was der Wolf kann, das kann ich auch. Und wenn gar noch das Pfitzner-Lied „Wie glänzt der helle Mond“ erklingt, welches zu Wolfs Meisterwerken gehört, dann können sich beide Komponisten näher nicht sein. Es ist die helle Freude, dieser Sängerin zuzuhören, die mit ihrem Vortrag für einen Höhepunkt der Edition sorgt. Mit diesem Zyklus, der 1923 komponiert wurde, nähert sich Pfitzners Liedschaffen seinem Finale zu.

Mit Sechs Liedern Op. 40, deren letztes Weckruf nochmals auf Eichendorff zurückgeht, ist es getan. Es ist ein vergeblicher Weckruf, der im Dunkel der Nacht verhallt. Die in ihrer inhaltlichen und musikalischen Fülle und Üppigkeit herausragende Gruppe entstanden 1931, zu finden auf CD 3 (8.573081). Pfitzner hatte die sechzig überschritten. „Leuchtende Tage“ sind schmerzhafte Erinnerung geworden. Das gleichnamige Lied nach dem Gedicht von Ludwig Jacobowski (1868-1900) – es gilt als sein bekanntestes – steht am Anfang, zu vorletzt Wandrers Nachtlied von Goethe mit dem berühmten Klageruf „Ach, ich bin des Treibens müde!“ Die mit Wagner und Strauss vertraute Mezzo-Sopranistin Tanja Ariane Baumgartner geht als Hochdramatische auf die Lieder zu. Wo es geboten ist, nimmt sie sich zurück und schmückt lyrische Einzelheiten hingebungsvoll, gar schmachtend aus. Nicht nur hier ist es angebracht, einen Blick in die Texte zu werfen. Naxos bietet sie im Netz an, wo sie auch heruntergeladen werden können. Das ist praktisch und spart Papier. Rüdiger Winter