Rätsel um Zerbinetta

 

Mit den angeblichen Erstveröffentlichungen ist das oft so eine Sache, zumal bei Hänssler Profil. Auf dem Recital von Ruth-Margret Pütz bei Profil Edition Günter Hänssler (PH18012) ist die Arie der Zerbinetta „Großmächtige Prinzessin“ aus der Ariadne auf Naxos von Richard Strauss als eine derartige Neuigkeit ausgewiesen. Genau besehen stammt sie aus einem Mitschnitt, der bereits vor vier Jahren bei Cantus Classics erschienen und noch im Handel ist. Auch das Hamburger Archiv für Gesangskunst, auf dessen Autor Klaus Ulrich Spiegel sich im Booklet berufen wird, hatte just diese Szene im Rahmen einer der Sängerin gewidmeten Edition (Vol. 1) ebenfalls im Programm. Von Erstveröffentlichung kann also nicht die Rede sein. Dafür stellen sich die Umstände dieser Produktion als umso spannender dar. Sie sind das eigentliche Highlight. Am 6. Oktober 1962 wurde im Stuttgart das im Krieg zerstörte Kleine Haus der Württembergischen Staatstheater als Neubau eingeweiht. Und zwar mit jenem Werk, das dort fünfzig Jahre zuvor bei seiner Uraufführung nicht den erhofften Erfolg einfuhr: Ariadne auf Naxos. Oper in einem Aufzuge. Zu spielen nach dem „Bürger als Edelmann“ des Molière – so der etwas sperrige Titel der Urfassung des Werkes. Es gab von der Reprise eine Übertragung im Radio. SWR 2 hat das historische Band 2014 erneut gesendet und damit für viel positives Aufsehen gesorgt. Für die damalige Zeit war die Besetzung außerordentlich luxuriös. Leonie Rysanek sang die Ariadne, Jess Thomas den Bacchus. Und die Pütz die Zerbinetta. Stuttgarter Prominenz – darunter Friederike Sailer, Hetty Plümacher, Alfred Pfeifle und Gerhard Unger – war auch für die kleineren Partien aufgeboten. Am Pult waltete Ferdinand Leitner. Der Schauspieler Max Mairich gab den Herrn Jourdain, Hilde Weissner die Marquise Dorimene. Unter dem tat man es damals nicht im wohlhabenden Ländle.

Warum allerdings Ruth-Margret Pütz ihre Arie aus der zweiten und bis heute gängigen Fassung sang und nicht in der mit noch mehr Koloraturen gespickten Originalfassung wie einst Margarethe Siems, fand ich bisher nirgends erklärt. Auch im Booklet der Profil-CD wird nicht darauf eingegangen. Hätte sie diese Herausforderung am Ende nicht bestanden? Das kann ich mir nicht vorstellen. Dafür gelingt ihr die Arie in der endgültigen Fassung zu zu sicher und zu rasant. Da wäre im wahrsten Sinne des Wortes noch Luft nach oben gewesen. Insofern war es eben doch nicht ganz das Original, was 1962 in Stuttgart ausgegraben wurde. Letztlich spricht dieses Manko aber nicht gegen das neue Recital, das schon dadurch eine Gewinn ist, weil vier Titel aus einer Columbia-Schallplatte übernommen wurden, die inzwischen Seltenheitswert hat. „Gualtier Maldé! Teurer Name“ (Gilda) aus Rigoletto, „Ach, unter allen Blicken / Auch ich versteh’ die feine Kunst“ (Norina) aus Don Pasquale, „Nun eilt herbei, Witz heit’re Laune“ (Frau Fluth) aus den Lustigen Weibern von Windsor sowie die beseelte Konzertarie „Mia speranza adorata! Ah non sai qual pena sia“ von Mozart. Dabei werden die Berliner Symphoniker von Berislav Klobucar geleitet. Die beiden Arien der Konstanze „Welcher Kummer herrscht in meiner Seele – Traurigkeit ward mir zum Lose“ und „Martern aller Arten“ führen zu den Salzburger Festspielen 1961, wo die Pütz neben Fritz Wunderlich in einer Neuinszenierung der Entführung aus dem Serail auftrat. Mit der Szene „Ach, Belmonte! Ach mein Leben“ aus einer Stuttgarter Aufführung – hier singen Josef Traxel den Belmonte und Gerhard Unger den Pedrillo – werden die Auszüge aus dieser Oper wirkungsvoll ergänzt.

Auf mich wirkt die Stimme durchsichtig und klar, als würde Licht hindurch scheinen. Ihre Koloraturen schwingen mühelos und wirken niemals nur technisch. Sie brilliert bei ihren Soloauftritten und passt sich mit der gleichen Disziplin ins Ensemble ein. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass mit der Neuerscheinung auch das Geburtsjahr von Ruth-Margaret Pütz, die – wie im Booklet weiter zu lesen ist – „zurückgezogen aber geistig wach“ in einem Stift bei Stuttgart lebt, um ein Jahr nach hinten datiert wird. Sie sei 1930 und nicht – wie oft zu lesen – 1931 geboren. Rüdiger Winter