Vorläufer oder Vorlage?

 

Nicht nur Beethoven hatte sich bereits zweimal am Leonorenstoff, dem Preisen der ehelichen Liebe, abgearbeitet, ehe er mit Fidelio die endgültige Fassung komponierte, viele andere Komponisten hatten sich „der Episode aus der Zeitgeschichte“ von Jean Nicolas Bouilly, nämlich der Terrorherrschaft, des terreur der Jakobiner, angenommen und sogenannte Rettungsopern komponiert. Zu ihnen gehören Pierre Gavenaux und Simon Mayr, aber auch der Italiener Ferdinando Paër mit seiner Leonora. Den Grundstein für die Gattung allerdings hatte Cherubini mit seiner Lodoiska gelegt, die Riccardo Muti, bekannt für seine Vorliebe für den Komponisten, bei den Festspielen in Ravenna vorgestellt hatte. Paërs Leonora wurde 2020 (!) bei den Innsbrucker Festwochen aufgeführt, und die Produktion sollte auch in Bonn und Schwetzingen aufgeführt werden, wo sie allerdings ein Opfer der Corona-Pandemie wurde. Jetzt gibt es eine CD aus Innsbruck unter Alessandro De Marchi, und diese erweist sich nicht nur als hörenswert, sondern auch insofern als interessant, als sie zeigt, dass das Hauptmanko von Beethovens Fidelio, das Zerfallen des Zweiakters in einen Akt Singspiel und einen Drama, durchaus vermeidbar war.

Das Personal beider Opern ist identisch, allerdings sind die Stimmfächer anders verteilt, so ist Pizzarro bei Paër ein Tenor, Giacchino ein Bass. Die Rolle der Marcellina ist eine weitaus bedeutendere als bei Beethoven, sie hat eine weitere Arie und greift entschieden in die Handlung ein, indem sie auf das Geheiß Leonoras, die sie zu diesem Zeitpunkt allerdings noch für einen Fedele hält, den Minister in den Kerker holt. Dafür wird sie bei Paer aber auch mit einem erneuten Heiratsantrag Giacchinos belohnt. Der Charakter Roccos fällt ähnlich aus  wie im Fidelio, er ist gutmütig, dreht das Geschick der Liebenden jedoch ins fast Aussichtslose, indem er Leonora die Pistole, die sie auf Pizarro richtet, aus der Hand schlägt.

Das scheinen alles unwichtige Unterschiede zwischen beiden Werken zu sein, wäre da nicht der ganz entscheidende, dass es bei Paër keinen Chor gibt, weder Gefangene noch Befreite und Lobpreisende, und so bleibt das Werk  eines über ein individuelles Schicksal und nicht ein die gesamte Menschheit betreffendes. Und eigentlich müsste im Untertitel nicht nur die eheliche Liebe gepriesen werden, sondern die der Frauen generell, den Marcellinas Tat ist fast ebenso mutig wie die Leonoras.

Insgesamt ist die Oper Paërs leichtgewichtiger und, obwohl  dem Fidelio zeitlich benachbart, vielmehr der Tradition verhaftet. Die Arie der Leonora ist reich an Verzierungen, an Koloraturen, die nicht immer in die Situation eingebunden, sondern oft reiner Zierrat zu sein scheinen. Die Partie ist viel lyrischer als die der deutschen Leonore, eine sehr mädchenhafte, liebliche  Sopranstimme, die von Eleonora Belocci ließe niemanden auch nur einen Knaben in der Figur vermuten, „Abscheulicher“ ist längst nicht so facettenreich wie bei Beethoven, sondern viel stärker älteren Formen und Konventionen verpflichtet. Auch der Florestano ist für eine leichtere Stimme, einen lyrischen Tenor, komponiert, „Gott, welch Dunkel hier“ („Ciel,che profonda oscurità“) ist weit weniger spektakulär, das Orchester begleitet eher tröstlich als düster, auch diese Arie ist reich an Verzierungen, die der tüchtige Tenor Paolo Fanale geschickt als Ausdrucksmittel nutzt. Wenn schon Tenor, dass hätte man sich den Pizarro als schneidenden Charaktertenor vorgestellt, so aber klingt Carlo Allemano eher baritonal, und auch der Giacchino von Luigi De Donato klingt nicht rollengerecht, sondern eher väterlich als ein Liebhaber. Das heißt nicht, dass nicht beide Sänger ihre Sache gut machen, vielleicht nur zu sehr den Hörgewohnheiten widersprechen, als dass sie so recht gefallen könnten. Buffoneske Züge weist der Bass von Renato Girolami auf, eine frische, quellklare Mädchenstimme hat Marie Lys für die Marcellina, die notwendige Autorität für den Retter Don Fernando hat Kresimir Spicers Tenor. Wer wäre berufener als das Innsbrucker Festwochenorchester unter seinem Dirigenten Alessandro De Marchi, der Partitur zu optimaler Wirkung zu verhelfen?! Schön, dass es diese Oper, übrigens auf der Grundlage der historisch-kritischen Ausgabe von Christian Seidenberg, nun zum Vergleich mit den anderen Bearbeitungen des Stoffs und in hervorragender Besetzung gibt (2 CD cpo 555 411-2). Ingrid Wanja