Und der KGB hörte zu….

Fast etwas unbemerkt hat Naxos seit längerem Opernaufnahmen des ehemals staatlichen sowjetischen Labels Melodiya (Мелодия)* im Vertrieb. Klassiker aus längst vergangenen LP-Zeiten. Wer erinnert sich nicht an die zumeist aus dem ehemaligen Ostblock durch Zufallsfund mitgebrachten schweren Plattenkartons, die mit oft billigem Leinen überzogen waren und stark nach Leim rochen; die Schallplatten waren dicker und schwerer als bei uns und die Papierhüllen der LPs zumeist aus groben Papier mit einer separaten Plastiktasche darin. Noch heute hat sich der typische Geruch erhalten, wenn man die Plattenschuber aus dem Regal zieht.

ponomareva-lp-side1Doch nicht nur die seit Gründung von Melodiya im Jahre 1964 aufgenommenen Produktionen verzeichnete der Katalog, sondern zunächst auch viele zuvor eingespielte russischen Aufnahmen. Freilich ist nur ein Bruchteil der angeblich 300.000 Aufnahmen erhältlich, es ist zudem fraglich, ob alle Aufnahmen überlebt haben. Mit Gründung des Labels begann man das Repertoire konsequent neu aufzunehmen, so erklärt es sich, dass für die meisten kanonischen Titel in der Regel drei oder mehr Aufnahmen vorhanden sind: eine Mono-Einspielung, eine frühe Stereo-Aufnahme und dann nach Gründung der Melodiya erneut mindestens eine weitere Stereoeinspielung. Zu Geschichte, Repertoire und den wichtigsten Künstlern der Melodiya mit ihren zeitweise 120.000 Mitarbeitern findet man auf der Homepage des modernisierten Labels einen guten (englischsprachigen) Überblick. [http://www.melody.su/en/melody/history/]

Das Bolshoi in Moskau/Wiki

Das Bolshoi in Moskau/Wiki

Im Opernbereich hat man prägende Dirigentennamen, deren Aufnahmen als Referenzaufnahmen produziert wurden: In der ersten Phase sind das vor allem Nebolsin, Golovanov, Melik-Pashayev, Samosud und Khaikin, dann, mit Gründung der Melodiya, hauptsächlich Svetlanov, Lazarev, Simonov, Fedoseyev, Rostropovich, Rozhdestvensky und Ermler. Mit den großen Orchesterapparaten vornehmlich des Staatlichen Sinfonieorchesters, des Staatlichen Rundfunks und des Bolshoi prägten sie über die zweite Hälfte des letzten Jahrhundert hinweg einen Stil, der den großen Klang, den vollen Sound, überhaupt das Großdimensionierte kultivierte. Das gilt auch für die am Bolshoi geprägte Gesangsrichtung, die stilistisch kaum zwischen dem beginnenden und dem endenden 19. Jahrhundert unterschied. Mit dem Zusammenbruch der UdSSR endete all dies, bevor mit der Auflösung der Sowjetunion 1990/91 im Bereich der Opernaufnahmen russischen Repertoires die Gergievisierung des Repertoires begann und der Hochglanz-Breitwandsound zu neuen, oft zweifelhaften, zumeist jedoch austauschbaren Dimensionen geführt wurde. Nun freilich nicht mehr bei Melodiya.

Exemplarisches sei aus den derzeit über Naxos lieferbaren Melodiya-Titeln herausgegriffen. Die dürftigen Booklets sind zweisprachig gehalten (russisch und englisch), Libretti fehlen ganz, die Angaben sind nicht immer zuverlässig.Tschaikowskys Pique Dame ist in der Aufnahme mit den Klangkörpern und Kräften des Bolshoi Theaters von 1967 erhältlich. Die Einspielung war früher – wie andere auch – im Westen auf vier Eurodisc-LPs erhältlich, dennoch zählt sie zu den eher unbekannt gebliebenen Aufnahmen der Oper, war sie doch lange Zeit gar nicht im Handel zu haben. Die Hauptpartien wurden von seinerzeit noch jungen Stars des Bolshoi gesungen: Zurab Anjaparidze, Tamara Milashkina und Yuri Mazurok; die Gräfin singt mit fülliger Altlage hingegen Valentina Levko, ein bereits langjähriger Bolshoi-Liebling (der Brilliant Classic erst vor kurzem eine 11-CD-Box widmete, siehe unsere Besprechung). Schon Boris Khaikins musikalisches Gespür für Atmosphäre und Nuancen der Partitur macht diese Aufnahme hörenswert. Zurab Anjaparidze ist ein jugendlich-stürmischer, intensiver Hermann, mit geradezu plastischen Farben und großem Engagement. Sein Rollenporträt galt der folgenden Generation als Vorbild, wie das Beiheft weiß. Ähnliches lässt sich für die wunderbar energievolle Lisa der damals Anfang dreißigjährigen Tamara Milashkina sagen, die ihre großen Szenen sinnlich und einfühlsam gestaltet. Und auch Mazuroks männlich-prächtiger Yeletsky steht hier in voller Blüte und ist selbstverständlich nicht so fremd besetzt wie später in mancher Verdi-Partie oder als Escamillo, mit denen er im Westen gastierte. Auch wer die Milashkina  nur aus Westaufführungen der 1980er Jahre im nicht-russischen Repertoire kennt, wird angenehm überrascht sein (MEL CD 10 02088).

dargomAußerhalb der ehemaligen Sowjetstaaten ist Alexander Dargomyzhskys Rusalka (1855) eine unbekannte Oper geblieben und wurde stets von Dvoráks Variante des Stoffes überschattet. In Russland hingegen gehört diese Rusalka zu den bis heute regelmäßig gespielten Werken des heimischen Opernrepertoires. Dabei ist die hier auf Puschkins Drama zurück gehende Oper musikalische durchaus reizvoll. Ein Ringen um darstellerischen und musikalischen Realismus, um ein frühes psychologisches Verständnis der Charaktere, kann man aus diesem zwischen volkstümlichen Melodien, lyrisch-liedhaftem Charakter und dramatischen Episoden wechselnden Opus heraushören. Stärker als in Dvoráks Version vermischt sich hier eine sozial determinierte Welt mit einem fantastisch-mythologischen Unterwasserreich (das 5. Bild spielt gar unter Wasser). Der Dualismus des 19. Jahrhunderts von mysteriöser Naturgewalt und domestizierter Lebensrealität wird hier als Parabel vorgeführt und endet mit dem in die Fluten gestoßenen Fürsten. Nebolsin (1948), Svetlanov (1960 ?) und Fedoseyev (1983) haben das Werk aufgenommen. Svetlanovs reichlich romantisierende, vollmundige Lesart mit den Kräften des Bolshoi kann vor allem mit der lyrischen Kraftstimme des nicht mehr jungen Ivan Kozlovsky („Lenins Lieblingstenor“) in der Rolle des Prinzen punkten. Die CD gibt als Aufnahmejahr 1971 an, Kozlovsky wäre dann aber bereits 70 Jahre alt gewesen. Andere Quellen nennen 1960 als Aufnahmejahr, was selbstverständlich wesentlich plausibler ist. Die Titelpartie singt die ukrainische Sopranistin Eugenia Smolenskaya, die bereits 1948 in der Aufnahme unter Nebolsin zu hören war. Eine der führenden lyrisch-dramatischen Sopranistinnen des Bolshoi, deren Repertoire bis zu Tosca, Aida und Elsa reichte. Der auch aus anderen Aufnahmen bekannte Bass Alexei Krivchenya porträtiert die heimliche Hauptrolle des Müllers einfühlsam und bewegend, vor allem aber mit großer emotionale Kraft in seinen letzen Szenen (MEL CD 10 01775).

ruslanMichail Glinkas zwei vollendete Opern Ruslan und Ludmila und Ivan Susanin (Ein Leben für den Zaren) sind in den Produktionen der Jahre 1978 respektive 1979 erhältlich. Selbstverständlich wieder mit den Klangkörpern und Vorzeigekräften des Bolshoi, der Ivan unter Mark Ermler, Ruslan und Ludmila unter Juri Simonov. Simonovs Orchesterstil scheint dabei plakativer und vordergründiger zu sein. Im Orchester knallt es da  schon mal gehörig, wenn es nationalistisch wird und Pathos ist eines seiner bevorzugten Gestaltungsmittel. Alles scheint auf klangliche Exzellenz gebürstet. Dennoch stehen ihm mit Bella Rudenko und Evgeni Nesterenko zwei exquisite Interpreten für die Titelfiguren zur Verfügung. An die Aufnahmen von Samusod (1938) und Kondrashin (1952) reicht das jedoch in der Summe nicht heran. Wer dennoch ein aufnahmetechnisch modernes  Klangbild möchte, dem sei die Aufnahme unter Alexander Verdernikov (2004 bei Pentatone erschienen) wärmstens empfohlen. Mark Ermler hingegen gelingt mit den selben beiden Interpreten eine dynamisch wesentlich differenziertere, die Feinheiten der melodisch und harmonisch reichen Partitur auskostende Lesart von Ivan Susanin. Bemerkenswert sein Gespür fürs Tänzerische des zweiten Aktes und die immer wieder auch betont unaufgeregten Tempi. Nesterenkos Ivan ist von großer Seriosität und besonders eindrucksvoll im vierten Akt. Bella Rudenko hingegen wirkt schriller und unsicherer in der Intonation denn als Ludmila. Hinzu kommt der eindrucksvoll höhensichere und kräftige Tenor von Vladimir Shcherbakov als Bogdan Sobinin. Aber auch das Vibrato im Altregister von Tamara Sinyavskayas altmodischem Mezzo. Eine Einspielung, die einen gemischten Gesamteindruck hinterlässt. Bedenkt man, dass man kaum einen klaren Favoriten aus den etwa ein Dutzend Gesamteinspielungen des Werks ausmachen kann, so ist diese Gesamtaufnahme nicht die schlechteste Wahl (Ruslan und Ludmila MEL CD 10 01346 und Ivan Susanin MEL CD 1001336)-

achneeDie 15 Opern Nikolai Rimsky-Korsakovs haben sich – trotz beständiger Versuche – im deutschsprachigen Raum nie so recht behaupten können, was angesichts ihrer Qualitäten mehr als bedauerlich ist. Snegurochka (The Snow Maiden/ Schneeflöckchen) nach Ostrovskys Schauspiel (zu dem Tchaikovsky die Schauspielmusik geschrieben hatte) ist vielleicht eine seiner schönsten und besten Opern, erfüllt von Naturmystik, Ewigkeit und der Kraft der Liebe. Eine Parabel im Gewand des Märchens. Der strahlende Klang mit seinen der Natur abgelauschten Episoden schielt auf Wagner und seine Leitmotivdramaturgie und ist doch ganz eigenständig. 1978 (nicht 1987, wie auf der CD-Hülle steht) hat Alexander Lazarev mit einer Sängerbesetzung von zu meist guter, gelegentlich aber auch uneinheitlicher Qualität dieses Winter- und Frühlingsmärchen aufgenommen (Irina Zhurina, Igor Morozov, Taiana Ersatova, Lyudmila Sergienko, Alexander Fedin, Nina Terentieva, Raisa Kotova). Selbstverständlich spielen und singen die Kräfte des Bolshoi, deren Hang zum großen Klangbild nicht zu überhören ist; man könnte sich das Ganze durchaus auch dezenter vorstellen. Doch dann wäre diese Produktion vermutlich nicht aus der sowjetischen Opernschmiede (MEL CD 10 01526).

Moritz Schön

* Namen werden hier, so wie schon zu Sowjetzeiten auf einigen der Plattenhüllen, in der englischen Transliteration wiedergegeben.

  1. Boris Kehrmann

    Dass die Libretti fehlen, ist besonders schade, da viele der Klassiker in sowjetisierten Textfassungen gesungen werden mussten. „Feudalistische Propaganda“ war trotz Stalins konservativem Musikgeschmack ja verpönt. Aber das würde natürlich aufwändiger philologischer Recherche bedürfen, die für dieses Nischenprodukt kaum zu finanzieren wäre. Und es würde selbst unter den paar 100 Leuten, die russische Aufnahmen kaufen, nur einen geringen Prozentsatz interessieren. Aber wer weiss? Vielleicht amüsiert es ja doch mehr Leute, als man denkt, Tosca für „Hammer und Sichel“ kämpfen oder Ivan Sussanin im Vorfeld des Hitler-Stalin-Paktes antipolnische Propaganda machen zu hören. „Antipolnische Propaganda“? Nein, das ist schon Volksverhetzung.

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