Überwältigende Konkurrenz

 

Die beste aller möglichen Candide-Aufnahmen zu finden ist schwer. Weil Leonard Bernsteins eklektisches Werk von 1956 – seine einzige echte „Operette“ – so oft umgeschrieben und überarbeitet wurde, dass es unendliche viele (interessante) Fassungen gibt. Und entsprechend viele Herangehensweisen ans Stück.

Auf der neuen Doppel-CD hält sich Dirigentin Marin Alsop mit dem London Symphony Orchestra an jene Konzertversion, die bereits das New York Philharmonic 2004 sehr erfolgreich präsentiert hatte. Davon gibt’s zwar keine CD oder DVD, aber viele atemberaubende Ausschnitte auf YouTube. Atemberaubend, weil die Besetzung Musical-Stars allererster Güte bietet. Allen voran Kristin Chenoweth als Cunegunde, die kurz nach ihrem Wicked-Triumpf zeigt, wie sehr diese Rolle von perfektem Comedy Timing profitiert und wie wichtig es ist, „Glitter and be Gay“ auch zu spielen, um maximalen Effekt aus dem Koloratur-Blockbuster herauszuholen.

Dann ist da auch noch die one-and-only Patti LuPone (Broadways erste Evita) als Old Lady, die sich mit Chenoweth ein Diven-Doppel liefert, bei dem die Fetzen fliegen, wenn‘s darum geht, wer „die erste Sängerin“ sei. Paul Groves trat damals als Candide an, Thomas Allen war in der Doppelrolle des Erzählers und des Dr. Pangloss dabei.

Und Alsop dirigierte. Sie fiel mir jedoch nie auf, weil die Solisten – allen voran Chenoweth/LuPone – alles überstrahlen. Nun also nochmals Alsop und Candide. Diesmal auf CD, statt gefilmt.

Leider hat sich Alsop für die zwei Aufführungen im Londoner Barbican 2018 keine Musicaldarsteller aus dem West End geholt, sondern ein reines Opernteam zusammenstellen lassen. Zu dem gehört abermals Thomas Allen als Dr. Pangloss/Erzähler, ohne dass er großartig Neues mitzuteilen hätte. Und letztlich auch keinen Vergleich aushält mit Adolph Green, der 1989 den Erzähler auf der berühmten von Bernstein selbst dirigierten Aufnahme bei Deutsche Grammophon gibt. Überhaupt: Bei Bernstein/DG ist viel mehr Musik zu hören, und Hand aufs Herz: neben Bernstein am Pult wirkt Alsop nicht sonderlich fetzig. Was man bereits bei den ersten Takten der Ouvertüre merkt, wo der Drive und der Mut zur Operettengroteske fehlen. Da kann die Dirigentin sich im Booklet noch so sehr als enge Freundin des Komponisten darstellen – sie hätte besser von ihm lernen sollen. Ja, müssen.

Im Barbican traten Leonard Capalbo als Candide, Jane Archibald als Cunegonde, Marcus Farnsworth als Maximilian, Thomas Atkins als Gouverneur und Anne Sofie von Otter als Old Lady an. Sie alle singen gut. Aber es ist niemand von so überragender Persönlichkeit bei, weswegen ich mir unbedingt diese neue Candide-CD anschaffen würde. Wer „Glitter and be Gay“ nicht à la Chenoweth mag, sondern die Rolle lieber von einer Operndiva interpretiert hören will, ist bei June Anderson besser aufgehoben, die die Koloraturkaskaden mit jener Übertreibung und Selbstpersiflage singt, die Archibald vollkommen fehlt. Natürlich trifft Jane Archibald alle Töne, aber der Spaß bleibt (rein akustisch) auf der Strecke, als würde sie sich nicht trauen, over-the-top zu gehen. Und das betrifft nicht nur die Arie, sondern die gesamte Aufführung. Diese wirkt oft steril. Und anteilnahmslos abegeliefert.

Capalbo fehlt die honigsüße Unschuld, um ein idealer Candide zu sein. Robert Rounseville auf der Originalaufnahme von 1956 ist da unterreicht in seinem jugendlichen Optimismus. Unerreicht ist auch Irra Petina als originale Old Lady. Selbst im Vergleich zu Christa Ludwig (1989) wirkt von Otter hier lediglich passabel, ohne besondere Hingabe zu Details des gewitzten Textes. Manche werden sich an sie in der Barrie-Kosky-Inszenierung an der Komische Oper Berlin erinnern, wo sie auch eher blass blieb; zumindest für mein Empfinden. Und ich bin ein großer von-Otter-Fan!

Schmissiger und lustiger: Bernsteins von ihm selbst dirigierte Fassung bei DG

Es gibt von den diversen Candide-Fassungen hochindividuelle Aufnahmen: von der späteren Harold-Prince-Produktion von 1974, auch die New-York-City-Opera-Fassung wurde 1982 aufgenommen (nein, nicht mit Beverly Sills als Cunigonde, sondern mit Erie Mills), es gibt Aufnahmen von der erfolgreichen Fassung der Scottish Opera (1991 mit Marilyn Hill Smith als Cunegonde, Ann Howells als Old Lady und Mark Beudert als wunderbar singendem Candide), es gab eine weitere Broadway-Produktion 1997, die auf CD vorliegt mit dem famosen Jason Danieley als Titelheld, und dann existiert eine Aufnahme des Royal National Theatre (1999 mit Alex Kelly als spektakulärer Cunegonde und Daniel Evans als Candide). Die erwähnte halbszenische Aufführung des New York Philharmonic Orchestra 2004 findet sich auf YouTube. Und ja, die Deutsche-Grammophon-Aufnahme ist neben dem Original-Broadway-Cast-Album (mit der jungen Barbara Cook als frecher Cunigonde) weiterhin der Maßstab aller Dinge hier. Gemessen an all den vorangegangenen Aufnahmen ist die LSO-Einspielung wirklich nicht individuell genug, um echte Interesse zu wecken.

Es ist schon schade, dass nach so vielen Jahren wieder eine neue Candide-Aufnahme rauskommt, und die nachgerückte Künstlergeneration absolut gar nichts Neues zum Stück zu sagen hat. Die Dirigentin offensichtlich auch nicht. Da ist der ebenfalls neue West Side Story-Soundtrack zum Steven-Spielberg-Film ein gutes Beispiel, dass es auch anders geht. Dort treten Rachel Zegler und Ansel Elgort (bekannt aus Baby Driver) als Tony/Maria an und schaffen eine emotionale Direktheit, die in dieser Form neu und verblüffend ist. Ariana DeBose singt als Anita „A Boy Like That“ derart aggressive und dramatisch, dass man als Hörer umgehauen wird und meint, das noch nie so gehört zu haben. Und Rita Moreno demonstriert, dass man auch ohne Stimme eine herzergreifende Version von „Somewhere“ abliefern kann (Moreno hatte im Film von 1961 die Anita gespielt). Dazu Gustavo Dudamel als Dirigent, der mit Spielbergs Tontechnikern eine raffiniert neu ausbalancierte Lesart der überbekannten Partitur bietet, die von David Newman adaptiert wurde (John Williams war als Berater tätig, was man hört, in der besten aller möglichen Weisen). Das ist insgesamt vorbildlich. Denn: Wenn schon eine Neueinspielung, dann sollte sie auch etwas Neues zu sagen haben (LSO0834/ 10. 12. 21). Kevin Clarke