Starkes aus dem Bolshoi-Archiv

 

Denkt man an Pjotr Iljitsch Tschaikowski und seine Opern, so sind es ganz ohne Frage Eugen Onegin und Pique Dame, die auch nicht nicht nur primär an der russischen Oper interessierten Klassikfreunden etwas sagen und die sich auch im Standardrepertoire der Opernhäuser etablieren konnten. Bereits bei Iolanta, die zumindest ab und an aufgeführt wird, besteht ein gewaltiger Abstand in Sachen Popularität. Die restlichen Tschaikowski-Opern sind vornehmlich Kennern geläufig, auch wenn einige Produktionen der Jungfrau von Orléans (wohl nicht zuletzt auch aufgrund des spannenden Sujets) durchaus zu einer gewissen Berühmtheit gelangt sind. Mazeppa, 1884 im Moskauer Bolschoi-Theater uraufgeführt, indes ist ein wirklicher Exot, auch wenn die Thematik hierzulande nicht völlig unbekannt ist, was auch der gleichnamigen, 30 Jahre zuvor komponierten Tondichtung von Franz Liszt zu verdanken ist.

Im Mittelpunkt dieser dreiaktigen Oper steht Iwan Masepa (so die korrektere Translation), zwischen 1687 und 1709 Hetman der ukrainischen Saporoger Kosaken und schillernde Figur im Konflikt zwischen Russland und Schweden. Während Liszt sich auf die Jugendzeit Mazeppas konzentriert (angelehnt an Voltaire), steht bei Tschaikowski und Puschkins Vorlage der spätere Kosakenführer im Zentrum. Dabei verlaufen die historischen Ereignisse in der Oper vielmehr im Hintergrund, gipfelnd in der berühmten Schlacht bei Poltawa, während Tschaikowski das persönliche Drama Mazeppas, der Maria, die Tochter des Gutsherrn Kotschubej liebt, aber aufgrund seines Alters vom Vater nicht ernsthaft in Betracht gezogen wird. Zudem gibt es ihm jungen Kosaken Andrej einen weiteren Verehrer. Der Versuch Kotschubejs, Mazeppa eine Verschwörung gegen den Zaren anzulasten, geht indes nach hinten los; vielmehr wird Kotschubej selbst auf Betreiben Mazeppas hingerichtet. Am Ende, nach der verlorenen Schlacht, kommt es zum Duell zwischen dem mittlerweile gejagten Mazeppa und Andrej, in welchem letzterer fällt. Maria verliert darüber den Verstand, die Oper endet düster und hoffnungslos.

Allzu viele Einspielungen dieser Oper gibt es bis zum heutigen Tage nicht, wobei in erster Linie die Aufnahmen unter Neeme Järvi aus Göteborg von 1993 (DG) und unter Valery Gergiev aus dem Mariinski-Theater in St. Petersburg von 1996 (Philips) zu den Standardempfehlungen gerechnet werden. Daneben der bereits 1949 eingespielte Klassiker unter Wassili Nebolsin (Melodija). Während die erstgenannten klanglich freilich den Sieg davontragen, erreichen sie nicht die Idiomatik der alten Einspielung aus Sowjetzeiten. Dass gegen Ende der Sowjetunion eine weitere Studioaufnahme in vorzüglichem Klangbild entstand, war aufgrund mangelnder Verfügbarkeit bislang nur Eingeweihten überhaupt geläufig. 1982 nämlich spielte abermals Melodija unter dem Dirigat von Fuat Mansurow diejenige Produktion ein, die man mit Fug und Recht als die Referenz bezeichnen darf, vereint sie doch einen zeitgemäßen Klang mit einem exzellenten wahrlich russischen Sängerensemble, wie man es heutzutage in dieser idiomatischen Vollendung nicht mehr vorfindet. 2020 erscheint sie erstmals auf CD (Mel CD 10 02613).

Tatsächlich ist es unverständlich, wieso diese diskographische Glanzleistung fast vier Jahrzehnte nicht auf dem CD-Markt verfügbar war und daher insbesondere im Westen niemals den ihr zustehenden Bekanntheitsgrad erlangte. Während dort Anfang der 1980er Jahre die goldene Ära des Operngesangs bereits vorbei war, dauerte diese in der UdSSR mehr oder weniger bis zu deren Untergang an. Der wohl berühmteste unter den mitwirkenden Sängern ist der Bassist Jewgeni Nesterenko, hier in der Rolle des Kotschubej, der sich stimmlich deutlich abhebt vom Bassbariton von Wladimir Walaitis, der die Titelrolle übernimmt und, der Figur durchaus angemessen, auch ältlicher daherkommt. Dadurch besteht nicht im Ansatz die Gefahr, dass sich die beiden wichtigsten tiefen Stimmen der Oper allzu sehr ähneln. Die dritte bedeutende männliche Partie übernimmt der Tenor Wladislaw Pjawko in der Rolle des Andrej. Subtiler Schönklang ist seine Sache zwar nicht, doch überzeugt er durch wahrlich heroisch-slawischen Tonfall auf seine Weise doch und zeichnet die Figur sehr maskulin. Kurioserweise singt Pjawkos Ehefrau, die Mezzosopranistin Irina Archipowa, in der Oper Ljubow, die Gemahlin des Kotschubej. Tamara Milaschkina schließlich brilliert als Maria und repräsentiert mit ihrem voluminösen dramatischen Sopran ebenfalls den mittlerweile ausgestorbenen alten russischen Gesangsstil. Die übrigen Rollen sind absolut rollendeckend mit bewährten Gesangskräften des Bolschoi-Theaters besetzt. Der heutzutage zu Unrecht im Schatten stehende Fuat Mansurow, seinerzeit als „die Staatskutsche der Sinfonieorchester der Sowjetunion“ bezeichnet (wie der kundige Booklet-Text von Boris Mukosej weiß), erweist sich als kongenialer Begleiter, dessen eher gemessene Tempi idealtypisch erscheinen und zum opulenten Charakter der Einspielung beitragen. In den rein instrumentalen Abschnitten, so etwa bei der Einleitung zum ersten Akt und im sinfonischen Bild der Schlacht bei Poltawa zu Beginn des dritten Aktes, kann er besonders glänzen. Dass der Chor und das Orchester des Bolschoi-Theaters mit seinen schmetternden Blechbläsern selbstredend die Idealbesetzung darstellen, braucht im Grunde genommen gar nicht extra betont zu werden.

All dies und nicht zuletzt die ansprechende Aufmachung der 3-CD-Box macht diese Gesamtaufnahme nicht nur für genuine Freunde russischer Opern zu einem absoluten Muss. Da sieht man auch darüber hinweg, dass leider kein Libretto beiliegtDaniel Hauser