„Die Musik wird vom Volke geschaffen, wir Komponisten arrangieren sie nur“, hat Mikhail Glinka gelegentlich behauptet. Modest Mussorgskys unvollendet gebliebene Oper Der Jahrmarkt von Sorotschinski ist ein gutes Beispiel für diese Phase der russischen Musik, ist Mussorgsky hier doch auf dem Höhepunkt des kunstvollen Bearbeitens und Arrangierens der dem Volk abgelauschten Melodien und Lieder angekommen. Ja mehr noch, seine teils harmonisch kühnen, volksliedhaften Erfindungen sind von den Originalmelodien nicht mehr zu unterscheiden. Zugleich war der Autodidakt Mussorgsky ein Außenseiter, dessen genialische Volksdramen von den Zeitgenossen verkannt und „verbessert“ und arrangiert wurden. Erst 1911 wurde der zwischen 1874 und 1881 komponierte und Fragment gebliebene Jahrmarkt erstmals konzertant aufgeführt, zahlreiche weitere Erst- und Uraufführungen verschiedener Bearbeitungen, Vervollständigungen und Fassungen folgten. Lyadov, Cui, Tcherepnin und Shebalin haben sich unter anderen daran versucht. Die Version des letzteren, 1931 in Leningrad unter Samul Samusod erstmals aufgeführt, hat sich dann schließlich durchgesetzt und liegt auch der Wiederveröffentlichung einer 1996 in Jekaterinburg entstandenen Aufnahme zu Grunde, die nun in der Opera Collection von Brilliant Classics erschienen ist.
Die Entstehungsgeschichte des Werkes ist verworren und zeigt das Ringen des Komponisten um einen neuen Stil, bei dem das Volksgut zum stilistischen Mittel wird und nicht mehr als Zitat die Naivität und Natürlichkeit einfacher Menschen illustrieren soll. Der Jahrmarkt von Sorotschinski ist eine komische Volksoper, mit einer etwas verworrenen, auf Gogol zurückgehenden Handlung, zu der ein heimliches Liebespaar, Bauern, Zigeunern, Hexenvisionen und der Teufel gehören… Weinbergers Schwanda (1928) meint man bereits gelegentlich zu hören, aber auch Smetanas wirbelnde Tänze spielen herein oder schon Janáceks lyrische Charakterisierungskunst und Kodáys folkloristische Kühnheiten.
Chor und Orchester des Ekaterinburg State Academic Opera Theatre, wie es auf der CD heißt, spielen mit ansteckender Begeisterung: mit übermütiger Ausgelassenheit, mal derb, mal delikat die raffinierten Rhythmen auskostend, doch stets mit dem nötigen Drive. Das kräftige, brillante Blech schmettert nie und die klar austarierten Klangkombinationen in den vorwärts gewandten Harmonien, die zu einer freien Tonalität drängen, selbige aber nie verlassen, entfalten den Zauber der Partitur. Evgeny Brazhnik am Pult sorgt für Dramatik und Differenzierung; die Vielfalt der Stimmungen, die er aus seinen Musikern herauskitzelt, ist bemerkenswert. Nichts klingt hier vordergründig poliert, sondern stets im Dienste des Ausdrucks gedacht, das reibt sich gelegentlich bewusst, türmt sich mächtig auf und fällt zu fahlen Streicherschichtungen zusammen, um kurz darauf wieder in punktierter Rhythmik davon zu stürmen. Was für eine grandiose, mitunter bizarre Partitur ist hier zu entdecken!
Die Gesangsstimmen sind völlig zu Recht mehr als Charaktere besetzt denn als Schönsänger und so scheuen sie auch Stilistiken des Sprechgesangs und der komischen Überzeichnung nicht. Die Sänger – Hermann Kuklin, Svetlana Zalizniak, Nadezhda Ryzhkova, Sergei Vialkov, Vitaly Petrov, Sergei Maistruk – sind hierzulande Unbekannte, verkörpern aber als Ensemble eine natürliche Stilistik, die denkbar weit von Gergievs Hochglanzprodukten entfernt ist, die wir seit zwanzig Jahren als russischen Stil verkauft bekommen. Das Ganze kommt so authentisch und selbstverständlich daher, ist so detailreich und überzeugend dargebracht, dass die 100 Minuten wie im Fluge vergehen. – Kaufbefehl, würde Harald Schmidt dazu wohl sagen (Brilliant Classics 94865). Moritz Schön