Selten, aber nun gleich zweimal

 

Beethovens Leonore in einer Aufführung der Opera Lafayette. Einen großen Anlauf nahm die Opera Lafayette, um nach der 2017 gezeigten Produktion von Pierre Gaveaux’ Léonore ou L’ Amour conjugal im Beethoven-Jahr bei Beethovens Leonore anzukommen, die sie im März in New York in dem auf der anderen Seite des Central Parks etwa in gleicher Höhe wie die Met befindlichen Kaye Playhouse vorstellte (Naxos Bluray NDB0121V, zur Leonore von Gaveaux vergl. auch den Artikel in operalounge.de). Gemeinsamer Ausgangspunkt beider Werke ist Jean-Nicolas Bouillys Libretto, das Ferdinand Sonnleitner für Beethoven übersetzte. Als die Oper von Gaveaux 1798 erfolgreich in Paris uraufgeführt wurde, war die Rettungsoper, zu der der Pierre Alexandre Monsignys ebenfalls von der Opera Lafayette 2009 wiederbelebte Le Déserteur den Startschuss gegeben hatte, bereits ein wohlbekanntes Muster, dem Grétry, Lesueur, Cherubini, Boieldieu gefolgt waren, und dem sich zeitgleich zu Beethoven, der im Januar 1804 mit der Arbeit an seiner Leonore begann, in Dresden erneut Paër in Leonore ossia l’amore conjugale zuwandte. Während Paërs Oper bereits im Oktober 1804 herauskam, folgte Beethovens Leonore erst im November des nächsten Jahres, wobei die Premiere am Theater an der Wien, nachdem der Adel die Stadt bereits verlassen hatte und die französischen Truppen und acht Tage vor der Aufführung schließlich Napoleon selbst in Wien eingezogen waren, unter keinem guten Vorzeichen stand.

Gaveaux: „Léonore“ in der Aufnahme der Lafayette Opéra bei Naxos Bluray

Die Urform des Fidelio ist näher am französischen Vorbild, was der Opera Lafayette, die sich seit 25 Jahren der französischen Oper des 17. und 18. Jahrhunderts widmet, entgegenkommen sollte. Die Aufführung der Opera Lafayette ist eine Fleißarbeit. Das Ergebnis eine ordentliche Aufführung, die in Oriol Tomas’ handlicher Inszenierung und Laurence Mongeaus sparsamer Ausstattung szenisch über eine Hochschulaufführung nicht hinauskommt, aber musikalisch ihre Meriten hat. Das Deutsch freilich ist schwerfällig, oft nur passabel – der Chor allerdings singt untadelig – und lässt sich bei Jaquino kaum erahnen, wobei Keven Geddes einen angenehm warmen lyrischen Tenor besitzt. Auch Pascale Beaudins muntere Marzelline, der Tomas als eines der wenigen Requisiten ihren Wäschekorb belässt, ist typgerecht besetzt. Die Singspiel-Szenen und deren Wechsel vom Sprechen zum Gesang scheint der Equipe der Opera Lafayette gut zu liegen. Nathalie Paulins bietet mit ihrem leichten Sopran, der in der Arie etwas aufblüht und nur in der Höhe etwas fest und später gar schrill wird, eine ansprechende Leistung als Leonore. Jean-Michel Richter, dem Will Crutchfied Florestans Szene anhand des verfügbaren Materials für diese Aufführung so rekonstruiert hat, wie sie 1805 geplant gewesen war, ist mit dumpfer Tiefe und brüchigen Übergängen stimmlich wirklich ein Gemarterter, spielt aber so überzeugend, dass man über diese Blessuren hinwegzuhören geneigt ist. Stephen Hegedus als  Rocco, Matthew Scolins als Pizarro mit Hitlerbärtchen und Alexandre Sylvestre als Don Fernando besitzen keine Stimmen, die man oft hören mang. Außerordentlich ist Ryan Brown, der ab der Ouvertüre, Leonore Nr. 2, den Dreiakter sicher und ruhig im Griff hat und mit dem superben, auf Originalinstrumenten spielende Orchester die Stimmungswechsel, etwa in dem sich an das Pizarro-Rocco Duett „Jetzt Alter“ anschließenden Duett Marzelline und Fidelio „Um in der Ehe froh zu leben“, so leicht und anmutig, feinnervig und animierend umsetzt, dass man seinen musikalischen Ausführungen gerne lauscht (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.).  Rolf Fath

 

Und zur Ausgabe von harmonia mundi schreibt Matthias Käther: Ludwig van Beethovens Fidelio gehört zu den wichtigsten und bekanntesten deutschen Opern überhaupt. Weniger bekannt ist, dass Beethoven drei unterschiedliche Fassungen des Werks erstellt hat. Gezeigt wird fast immer die letzte. Jetzt ist eine Neueinspielung der raren, fast nie gespielten ersten erschienen.

Beethovens Freunde fanden Leonore einfach zu lang und schlugen vor, diese zu ändern und zu kürzen. Denn das Premieren-Publikum war gelangweilt. Doch das lag vielleicht auch daran, dass große Teile der Musikwelt  wegen der nahenden napoleonischen Truppen aus Wien geflohen waren. Dirigent René Jacobs meint jedenfalls, die erste Fidelio-Fassung sei die beste. Für ihn ist die Erstfassung von 1805 außerdem die plausibelste, weil sie eine ausgefeiltere Handlung hat als spätere Versionen.

Es bleibt in allen Fassungen die Geschichte von der Ehegattin Leonore, die als Mann verkleidet unter dem Namen Fidelio undercover als Gefängnisgehilfe arbeitet, um ihren Mann da rauszuholen. Eigentlich ist das alles – wie in der Vorlage von Bouilly (dazu auch ein Beitrag in operalounge.de und auch hier) –  sehr simpel gestrickt, aber während in der populären End-Fassung ziemlich schnell klar wird, dass beide gerettet sind, bleibt der suspense in der Urfassung fast bis zum Schluss erhalten; erst ganz am Ende stellt sich heraus, dass beide ein happy end erwartet.

Es gibt bis dahin jede Menge Umstellungen von Nummern, einiges später gestrichene Material ist nun hörbar, deutlich hörbar auch kleinere bis gewaltiger Unterschiede in der Partitur. Das Werk fängt nun wieder, wie bei der Fidelio-Premiere 1805, mit der ausgedehnten Leonoren-Ouvertüre Nr. 2 an. Im Kern sind aber natürlich die großen Hits alle schon enthalten.

Herrlich harsch. Ich finde Jacobs auch deswegen spannend, weil er parallel zur historischen Entwicklung sich fast im selben Rhythmus – nur 200 Jahre später – für  die entsprechenden musikalischen Stile des 18. und frühen 19. Jahrhunderts interessiert hat. Er begann mit dem Spätbarock, entdeckte dann die Welt Mozarts und seiner Zeitgenossen für sich und landet nun bei Beethoven. Dieses Organische seiner Entdeckungsreise kommt der Leonore sehr zugute, selten hört man so klar wie hier die Linien, die von Haydn, Cherubini und Mozart, ja sogar von Salieri zu Beethovens Opernstil führen. Obwohl Jacobs vor allem ein starker Interpret von Vokalwerken ist, zeigt er sich hier paradoxerweise einer der überzeugendsten Orchesterleiter in Sachen Beethoven seit langem. Was er aus dem Freiburger Barockorchester herausholt, ist schon atemberaubend: ein harscher, kratziger, konfliktreicher Beethoven, der aber trotz allem nie knallig wirkt, sondern immer durchsichtig bleibt. Man kann ohne viel Übertreibung sagen: In dieser Aufnahme ist der wichtigste Held zweifelsohne das Orchester – und das hätte Beethoven sicher gefallen.

Solide Sängergarde. Viele Passagen von Leonore und Florestan sind in dieser Urfassung noch teuflischer als im späten FidelioMarlis Petersen in der Titelpartie wird mit diesen Schwierigkeiten besser fertig als Maximilian Schmidt als Florestan, aber da Jacobs hier generell eher Mozart-  als Wagnersänger einsetzt (wie es sich gehört), bleibt der Eindruck großer Stimmigkeit selbst in den schwächeren Momenten erhalten. Anders als in seiner Cosí führt Präzision im Gesang auch nicht zu Anämie und Unsinnlichkeit. Besonders Marlies Petersen nötigt mir beim Zelebrieren der fast unsingbaren Koloraturen größten Respekt ab. Bei den kleineren Rollen fällt die von mir sehr geliebte Sopransitin Robin Johannsen als Marzelline auf, hier durchaus mehr präsentiert als nur eine kleine Buffa-Rolle, eine hochbegabte Sängerin, die wie Jacobs aus der Alten Musik kommt und der Rolle eine quirlige Grazie verleiht (Beethoven: Leonore 1805 mit Marlis Petersen | Maximilian Schmidt | Robin Johannsen | Dimitry Ivashchenko | Zürcher Sing-Akademie | Freiburger Barockorchester | René Jacobs; 2 CD harmonia mundi HMM 902414 15)Matthias Käther