Wie an der Käsetheke und der obligaten Frage, darf es etwas mehr sein, hat die Edition Günter Hänssler bei ihrer ohnehin schon übervollen und ausgesprochen preisgünstigen Ausgabe der sieben russischen Opern, welche die Decca 1955 in Belgrad aufnahm, noch etwas draufgepackt. Das wäre nicht nötig gewesen. Und man muss sich diese beiden geschenkten CDs auch nicht ausgiebig zuwenden, schon gar nicht darf man die restlichen zwanzig CDs danach bewerten, was das Belgrader Opernhaus seinerzeit bei seinen zahlreichen Gastspielen im Westen als eine seiner Trumpfkarten ausspielte: Massenets Don Quichotte in einem merkwürdigen serbokroatischen Französisch, leicht gekürzt, vom Geist und Klang doch alles etwas vage und wie eine buntscheckige Aufführung durch eine Vagantenbühne. Aber seinerzeit war das Werk, dessen Wiederentdeckung durch Christoff, Ghiaurov, Raimondi, Furlanetto, Ramey und van Dam noch ausstand, weitgehend unbekannt. Die Hänssler Ausgabe ist überaus fair, nennt den Don Quichotte, der auch durch das Aufnahmedatum 1965 etwas aus der Reihe tanzt, nicht auf der Vorseite der Seven Great Russian Operas from 1955 aus dem Nationaltheater Belgrad und verzeichnet ihn nur auf der Rückseite schamhaft als Bonus. Hänssler-Berater und alter Electrola-Mann Dieter Fuoss merkt dazu an, „wohl wissend, dass sie mit den späteren Studioaufnahmen nicht konkurrieren kann, auch nicht mit der Produktion der RAI Mailand aus dem Jahr 1957 (mit Boris Christoff und der jungen Teresa Berganza – ital. gesungen) haben wir uns entschlossen, die Aufnahmen wegen ihres dokumentarischen Wertes als Bonus exklusiv für diese Box wieder zugänglich zu machen“. Viele Schallplattensammler werden sich an sie erinnern. Irgendwo stand die als Stereo-Aufnahme auf Everest veröffentliche Plattenbox – mit dem Hinweis „World Premiere Recording“ – und dem markanten Cover immer herum. Die alten LP-Cover wurden für die CD-Papphüllen beibehalten.
Massenet ist nur die Zugabe zu Glinka, Mussorgsky, Rimski-Korsakow, Borodin und Tschaikowsky, also den Seven Great Russian Operas from 1955, die Decca kostengünstig in Belgrad aufnahm, um ihren Katalog auf Vordermann zu bringen und der EMI auf ihren 1952 entstandenen Boris Godunow mit einer breiten Front russischer Opern zu antworten. Es war ein einmaliges Unterfangen, das nach 1955, mit Ausnahme des Don Quichotte, keine Fortsetzung fand. Die Umstände und Hintergründe um dieses Aufnahmeprojekt in Zeiten des Kalten Kriegs sind so spannend wie die Aufnahmen selbst und müssen unbedingt in dem Beiheft, das auch Inhaltsangaben und eine Geschichte der russischen Oper bietet, nachgelesen werden. Ich mache es mir einfach und lasse die Decca sprechen:
The story of how Decca came to record seven classics of the Russian opera repertoire in 1955 begins with a somewhat shadowy figure. The project was partly arranged and facilitated by a film and record executive, Gerald Severn. Born in Moscow, Severn worked in the US but had connections in countries behind the Iron Curtain; he assisted Russian actors in defecting to the West and, after working with Decca, became the artists and records executive for Artia, an American label which issued eastern-European recordings of folk and classical music such as Romanian folk-songs and dances and the ‘Gypsy King in Hi-Fi’, starring the Hungarian fiddler Sandor Lakatos, father of the best-selling classical musician of our own time, Roby Lakatos. Severn’s connections extended farther east, to the Red Army Chorus and even a locally produced ‘Passport to China’; his own long-standing passion for ballet (he had worked with Serge Diaghilev) produced a ‘Teach your child ballet’ album and accompanying book.
Severn agreed with Decca to underwrite a series of Russian opera recordings to be made with the company of the Belgrade Opera. One of the company’s senior recording supervisors, Arthur Haddy, was dispatched to Belgrade to find a suitable recording venue. He settled upon the cinema in the city’s House of Culture complex. By this stage in his long Decca career, however, Haddy was delegating onsite studio work to his junior colleagues, and the job was assigned to the Australian conductor-turned-producer James Brown, who had worked with Haddy on the company’s first stereo recordings in Geneva the previous year.
As was common in the early days of stereo, when the great majority of consumers were still listening on mono equipment, the recordings were made in both formats. The engineer responsible for the mono set-up was Kenneth Wilkinson, who alongside Haddy devised the Full Frequency Range Recording technique (ffrr) that made Decca a household name in the 1950s. His stereo colleague was Roy Wallace, hired by Haddy in 1953 as a brilliant young engineer who had already been developing the new technology for several years.
Interviewed in 1999 by Malcolm Walker, Wallace recalled: ‘James Walker, Kenneth Wilkinson and Joe van Biene and I flew out to Milan, from where we travelled on the Orient Express to Belgrade. Our gear had been flown out. The cinema wasn’t available until the nightly showings finished around 11pm. All the seats then had to be removed first, the gear unpacked, the microphones run out. Around midnight we were ready to start recording, which would continue until the early hours of the morning, sometimes until 8am. Everything then had to be taken down and the seating replaced. We worked very hard for 19 days but somehow managed to get through the sessions.’
Warum, fragt sich jetzt jeder, diese Box, nachdem die Serie seit 2018 auf Eloquence (und bei Naxos!) in Einzelausgaben veröffentlicht wurde. Dort jedoch in Stereo, bei Hänssler in Mono, wozu es heißt, „Wir haben uns hier für die nach unserer Meinung weniger scharf klingenden Mono-Versionen der russischen Opern entschieden“. Wie immer glaube ich Dieter Fuoss unbedingt, denn der alte Mono-Sound überzeugt.
Es begann Februar 1955 mit Fürst Igor und Chowanschtschina, dann reiste der aufnehmende Wanderzirkus 400 Kilometer weiter nach Zagreb, um dort im März/ April Boris 1955 einzuspielen, worauf im September/ Oktober des gleichen Jahres in Belgrad Iwan Sussanin, Eugen Onegin und Sneguroschka folgten; die Pique Dame, bei der kein exakter Aufnahmemonat angegeben ist, wurde irgendwann dazwischen gequetscht. Ein unglaubliches Unternehmen, das mit Ausnahme des erwähnten Boris der EMI alle Opern offenbar ungekürzt erstmals im Westen vorstellte. Das ist der immense Wert dieser Edition, die eine Ensemblearbeit dokumentiert – ich muss in diesem Zusammenhang an die Pariser EMI-Aufnahmen französischer Opern denken – der wir vierzig Jahre später in Gergievs Mariinsky-Aufnahmen russsicher Opern nochmals begegnen: keine himmelstürmenden Einzelleistungen, kein Boris Christoff, doch die sehr ansprechende, teilweise vorzügliche Leistung eines Ensembles, das gar nicht so riesig aufgestellt war, wie wir an den immer wieder gleichen Namen unschwer erkennen und das die Opern alle auf russisch einstudierte; nur zwei der sieben Opern befanden sich (in serbokroatisch) im Repertoire der Belgrader Oper. Doch so möchte man russische Oper irgendwo im Osten an sieben aufeinanderfolgenden Abenden hören.
Die Hänssler-Edition beginnt auf CD 1 mit Iwan Sussanin, d. h. der 1939 streng auf Parteilinie gebrachten Fassung von Mikhail Glinkas Ein Leben für den Zaren. Da in dieser Fassung Sobinins brillante Tenorarie fehlt, hat Fuoss die Arie mit Nicolai Gedda aus der Markevitch-Aufnahme von 1957 angehängt. Mich hat diese Entscheidung beim Lesen des Beihefts anfangs eher verstört als begeistert, doch sie funktioniert, klanglich wie technisch, und Gedda ist immer ein Gewinn.
Ansonsten ist die Fassung vollständig und zeigt wie tanz- und chorlastig die Oper, die zuletzt an der Frankfurter Oper etwas übersichtlicher daherkam, doch ist. Der in Sarajewo geborene Oscar Danon (1913-2009), der zwei Jahre später bei den EMI-Aufnahmen von Ein Leben für den Zaren in Paris unter Igor Markevitch die Chöre leitete, hat einen dichten und strengen Zugriff, hält das Geschehen in einem wunderbaren Fluss. Danon leitete die Belgrader Oper 1944-65 und hat offenbar eine perfekte Aufbauarbeit geleistet; seine Autorität vermittelt sich in dem in manchen Aufführungen leicht zersplitternden Fürst Igor noch eindrucksvoller. Der damals Mittdreißiger Miroslav Čangalović, eine der zentralen Sängerpersönlichkeiten der Edition, singt den Iwan Sussanin. Sein eigenwilliger Bass kann manchmal etwas unruhig, auch unschön klingen, etwas maulig im Ansatz, doch das alles fällt überhaupt nicht ins Gewicht, da das Singen stets Ausdruck und Persönlichkeit zeigt und seine Szene im letzten Akt von großer Eindringlichkeit ist. Viele der serbischen Stimmen verleihen ihren Figuren ein Gesicht. Marija Glavacevic ist als Antonida allerdings so scharf und schrill, wie man es hierzulande wenig schätzt. Drago Starc (Sobinin) hat einen tränenumflorten weichen Tenor, wie wir es bei russischen Tenören lieben, und Milica Miladinovic singt die Hosenrolle des Vanja mit durchschlagskräftigem Mezosopran.
Es folgt auf bei Hänssler der Boris, der mich nicht anspricht. Woran mag’s liegen. Ach ja, Das ist die Aufnahme aus Zagreb. Zwar mit dem Belgrader Chor und Orchester – in Iwan Sussanin und Fürst Igor übernimmt der Chor der Jugoslawischen Volksarmee – doch mit dem bedächtigen Kresimir Baranović, der meinem Empfinden nach nicht den richtigen Zugriff hat. Den Chören fehlt die Inbrunst, Čangalović, der ein junger Boris ist und nicht das richtige Kaliber für diese Partie – wie auch für den Dosifei – hat, macht das dennoch erstaunlich gut; die Bässe sind nicht überwältigend, Žarko Cvejićs Warlaam ist besser als Branko Pivnićki als Pimen, Stepan Andrashevichs fieser Charaktertenor ist richtig für den Schuiski. Erstmals treffen wir als Marina auf Melanija Bugarinović, die serbische Sängerin mit der damals bedeutendsten internationalen Karriere. Gespielt wird die mit dem Tod des Zaren endende Fassung; der Polenteil ist um die erste Szene des dritten Aktes gekürzt. Hänssler und Fuoss zeigen sich auch hier großzügig: angehängt ist die wirkungsvolle Szene vor dem Basiliuskathedrale aus dem Erstfassung in einer einst auf Telefunken veröffentlichten Aufnahme unter Wassili Nebolski mit Mark Reizen und Ivan Koslowski. Das macht Sinn.
Baranović dirigiert auch die zweite Mussorgsky-Oper, die Chowanschtschina aus der ersten, am 9. Februar 1955 startenden Aufnahmesitzung, wobei er auch hier, trotz der sorgfältig gepinselten chorischen und instrumentalen Breitwandgemälde nicht so überzeugt wie mit Pique Dame und Sneguroschka. Bugarinović und Čangalović sind Marfa und Dosifei, Žarko Cvejić und Alexander Marinković die Fürsten Chowanski. Im Lauf der Durchhör-Aktion merke ich, dass ich zu den Tracks mit deutschen und englischen Arien- bzw. Szenenanfängen auf der Rückseite der CD-Hüllen gerne die jeweiligen Figuren hätte. Spätestens bei Sneguroschka wird es schwierig die Übersicht zu behalten. Chronologisch würde nun der im Gegensatz zur EMI-Aufnahme strichlose Fürst Igor folgen, mit dem knapp 30jährigen kernigen Kavaliersbariton Dušan Popović als edlem und starkem Igor. Neu hinzu kommt die slowenische Sopranistin Valerija Heybal als fast kindlich fragile Yaroslavna. Žarko Cvejić ist ein leichter Konchak, Bugarinović ist als Konchakowna so sinnlich hingebungsvoll wie zuvor als Marina, Biserka Cvejić, in den 1960er Jahren als Azucena, Amneris, Laura, Dalila häufig an der Met, wo sie beim Abschied vom alten Haus gemeinsam mit Crespin das Gioconda-Duett sang, und besonders beliebt in Wien, ihre Amme.
Aus dem Herbst 1955 stammen die beiden Tschaikowskys Opern. Der von Danon dirigierte Onegin galt vielen als beispielhafte Aufführung, vergleichbar der quasi gleichzeitig entstandenen Bolschoi-Aufnahme unter Boris Kkaikin mit der jungen Vishnevskaya. Danon gelingt es die romantische Atmosphäre und Poesie und die aufwühlenden Gefühle der Puschkin-Szenen perfekt einzufangen. Heybal ist bezaubernd als mädchenhafte, individuelle Tatjana, die Briefszene ist einer der gelungensten Momente der Serie. Popović ist ein fast unnahbarer charakterstarker Onegin, Starc richtig besetzt als Lenki, Cvejić eine auffallende Olga, Bugarinović schaut als Amme nach dem rechten. Čangalović singt den Gremin. Für Pique Dame übernahm Baranović den Stab. Die Aufnahme erreicht nicht ganz das Niveau des Onegin, obwohl Marinković ein sowohl lyrisch leidender wie heldisch wütender Hermann ist, Heybal dagegen ist eine wenig einnehmende dünne Lisa, Bugarinović eine fulminante Gräfin und Cvejić eine opulent besetzte Polina ist. Baranović dirigiert auch Rimski-Korsakows Märchenoper Sneguroschka, die er trotz ihrer scheinbar desperaten Handlung um Hirten, Kaufleute und heidnische Gottheiten und Naturgeister über fast 3 ½ Stunden als eindringliche Legende erzählt und zu einem Hymnus steigert. Gute Porträts liefern die allenfalls etwas anämische Sofija Jakovic in der Titelrolle, Biserka Cvejić als Frühling, Heybal als Kupawa, Popović als Misgir und Čangalović als Väterchen Frost. Rolf Fath
Ein kritisches Wort zum Schluss: Waren die Originale denn sowohl in Stereo wie AUCH in Mono aufgenommen worden (die Engländer neigten ja länger zum Mono als vergleichsweise die Amerikaner)? Oder hat Dieter Fuoss den Klang auf Mono reduziert? Von welchem Satz LPs wurden diese Mono-Aufnahmen gemacht? Den englischen oder den amerikanischen London? Oder den frühen deutschen? Wie oft bei Hänssler bleiben technische Informationen eher vage.
Und in Sachen angeklebter Gedda-Arie im Susannin: Man kann sich wieder mal über die historische Korrektheit einer solchen Edition streiten – die Arie gab es eben damals nicht, warum nicht dabei belassen? Naxos und Warner bieten doch die Gedda-Ausgabe. G. H.