Redundante Eleganz

 


Der Cembalist, Organist und Dirigent Sébastien Daucé  hat sich auf die französische Barockmusik des 17. Jahrhunderts spezialisiert. 2008 gründete er das Ensemble Correspondances, seit 2010 gibt es CD-Einspielungen mit Werken von Antoine Boësset, Henry Du Mont, Michel-Richard de Lalande, Etienne Moulinié und mehrfach mit Werken von Marc-Antoine Charpentier, mit dessen Werk sich Daucé seit einigen Jahren vorrangig beschäftigt. Zusammen mit William Christie hat Daucé bei den Éditions des Abbesses drei Opern von Charpentier aufgearbeitet und herausgegeben, seine neuste Veröffentlichung bei harmonia mundi widmet sich La descente d´Orphée aux enfers. Diese Kurzoper hatte bereits William Christie 1995 auf CD eingespielt, eine aktuelle Aufnahme des Vokal- und Kammerensembles des Boston Early Music Festivals unter Paul O’Dette und Stephen Stubbs, die bei cpo erschien, gewann den Grammy als ‚Beste Opernproduktion‘ des Jahres 2014 und bekam den Echo in der Kategorie für frühe Operneinspielung. Die vorliegende dritte Aufnahme schließt also keine offensichtliche Lücke. Die zweiaktige Kurzoper La descente d´Orphée aux enfers entstand 1686 nicht für Versailles, sondern für das Haus der Mademoiselle de Guise, für die der Komponist fast 20 Jahre tätig war. Zehn Sänger standen in ihrem Dienst, alle zehn bekamen von Charpentier eine Rolle. Die elfte Figur, die für einen hohen Tenor (haute-contre) geschriebene Rolle des Ixion, sang Charpentier selber. Der erste Akt beginnt pastoral, dann stirbt plötzlich Eurydike, Orpheus stürzt in tiefe Trauer. Apollo rät seinen Sohn, Pluto aufzusuchen. Der zweite Akt schildert Orpheus in der Unterwelt. Mit seinem Gesang bezaubert er u.a. die schuldigen Seelen des Ixion und Tantalus, dann Proserpina und ihren Gatten Pluto, der ihm erlaubt, mit seiner Geliebten zurückzukehren. Die Oper endet mit einer Sarabande légère. Das Zurückblicken des Orpheus und der endgültige Verlust der geliebten Eurydike fehlen. Ob es einen dritten Akt gab, hätte geben sollen oder die Oper hier mit voller Absicht endet, erscheint spekulativ. Sängerisch ist die neue Aufnahme tadellos und hängt stark an der zentralen Rolle des Orpheus, dem Tenor Robert Getchell mit einer sehr angenehmen, ausdrucksstarken und flexiblen haute-contre-Stimme ein inniges Profil verleiht und der die Klagegesänge des zweiten Akts stimmschön modelliert. Getchell, Paul Agnew (in der Aufnahme von Christie) oder Aaron Sheehan (Boston Early Music Festival) – alle drei erhältlichen Aufnahmen sind bei Haupt- und Nebenrollen sehr gut und ausgeglichen besetzt. Die Neuaufnahme überzeugt weiterhin in den mehrstimmigen Vokalensembles, die den dramatischen Duktus nie ausbremsen und bei aller Klangschönheit die Handlung unterstützen. Neben Getchell sind Sopran Caroline Weynants als Eurydike, Bassist Nicolas Brooymans als Pluto sowie Caroline Arnaud und Lucile Richardot (Aréthuse/Proserpine), Violaine Le Chenadec (Daphné), Caroline Dangin-Bardot (Œnone), Stephen Collardelle (Ixion), Davy Cornillot (Tantale), Étienne Bazola (Apollon, Titye) in den vielen kleineren Rollen zu nennen.  Musikalisch ist das von Daucé gegründete und auf der Höhe der Zeit spielende Ensemble Correspondances den Verhältnissen der Erstaufführung entsprechend karg besetzt, sechs Streicher, zwei Flöten, zwei Theorben, Cembalo und Orgel. Die Aufnahme vom Boston Early Music Festivals verwendet statt der Flöten in manchen Szenen Oboen für einen vielfältigeren Klang, der auch hinsichtlich der Phrasierung etwas stimmungs- und nuancenreicher erscheint. In der Summe eine sehr gut besetzte, homogene und elegante Aufnahme, aber auch ein in gewisser Weise redundantes Vergnügen im Spektrum quasi gleichwertiger Einspielungen. (harmonia mundi france, HMM 902279). Marcus Budwitius