Im Sommer 2020 übernahm Dorothee Oberlinger die Intendanz der Musikfestspiele Potsdam Sanssouci, betitelte ihre erste Saison Musen und dirigierte die Opernproduktion in der Orangerie, Giovanni Battista Bononcinis Polifemo, auch selbst. Die deutsche harmonia mundi/SONY hat die Aufführung dieser Pastorale, uraufgeführt 1702 im Lustschloss von Königin Sophie Charlotte in Lietzenburg, im Juni mitgeschnitten und nun auf 2 CDs veröffentlicht (19439743802). Der Librettist Attilio Ariosti verwendete für seinen Text Mythen der Verserzählung Ovids um den Schäfer Acis, den Zyklopen Polifemo, die Nymphen Galatea und Silla, den Fischer Glauco und die Zauberin Circe. Die Musik enthält zwanzig Nummern, fast alle in Da-capo-Manier komponiert und von sehr virtuosem Anspruch. Am Beginn steht eine Ouvertüre in französischem Stil, welche das von Dorothee Oberlinger gegründete Ensemble 1700 galant und effektvoll musiziert. Die Dirigentin ist mit forschem, straffem Zugriff und einfühlsamer Begleitung der Solisten der Motor der Aufführung. Die Arien kommen Affekt betont und akzentuiert zu gebührender Wirkung, das Continuo mit Laute, Cembalo und Cello sichert einigen eine besonders aparte Stimmung.
Eine exquisite Besetzung garantiert ein hohes gesangliches Niveau, angeführt von Joao Fernandes als Titelheld mit resonantem, auftrumpfendem Bass. Die Überraschung ist der sensationelle Auftritt des jungen brasilianischen Sopranisten Bruno de Sá als Aci. Die klare Stimme mit einer enormen Reichweite bis in die Extremhöhe von angenehmem, nie grellem Ton übertrifft im ersten Duett an Klangschönheit sogar die von Galatea. Seine Soli „Partir vorrei“ und „ Bella dea“ (mit einer Atem beraubenden Kadenz) markieren die vokalen Glanzlichter der Aufführung. Als Galatea ist die renommierte Barockspezialistin Roberta Invernizzi zu hören, die stilistisch zwar ihre reichen Erfahrungen einbringen kann, doch mit zu reifem, ältlichem Ton der Figur die jugendliche Frische schuldig bleibt. In den eindringlichen Klagen der Partie (wie „Dove sei“) wirkt sie am stärksten. Auch Roberta Mameli ist eine anerkannte Größe in diesem Repertoire. Ihre Silla überzeugt gleichermaßen mit keckem Ausdruck und munteren Koloraturen wie betörenden, flehentlichen Klängen („Soccorrete“). Die Zauberin Circe hatte sie aus Eifersucht in ein Monster verwandelt. Liliya Gaysina sorgte mit furiosem Auftritt und der fulminant hingeschleuderten Arie „Pensiero de vendetta“ für einen dramatischen Kontrapunkt im Gefüge der anderen lyrischen Arien. Glücklicherweise vermag die Liebesgöttin Venere, Silla ihr früheres Aussehen zurück zu geben. Maria Ladurner becirct mit feinem Sopran. Bedingung für Sillas Rückverwandlung war, dass die Nymphe die Zuneigung des Fischers Glauco annehme. Als dieser ist Helena Rasker ein weiterer Trumpf der Besetzung. Der klangvolle Alt verströmt sich leidenschaftlich in den Gesängen der Zuneigung für Silla, doch steht ihm gleichermaßen auch die ausgewogene, edle Kantilene zu Gebote. Alle Solisten vereinen sich am Ende zum warnenden Schlusschor „Farfalletta che segue l’Amor“. Denn: Der wird den Schmerz finden, der die Lust sucht. Das Sinnbild meint den Schmetterling, der sich der Flamme nähert und verbrennt. Bernd Hoppe