2008 an der Berliner Staatsoper sowie zwei Jahre später an der Metropolitan Opera hatte sich Simon Rattle für seine Debüts Claude Debussys einzige vollendete Oper Pelléas et Mélisande ausgesucht. So auch im Januar 2016 sozusagen als Einstand beim London Symphony Orchester, dessen Leitung er im September 2017 übernahm; wie in New York mit Magdalena Kožená und Gerald Finley als Mélisande und Golaud. Noch bevor er auf Maeterlincks Drama gestoßen war, hatte Debussy gegenüber Ernest Giraud seine Vorstellung von seiner Oper präzisiert, „Mein Ideal wären zwei mit einander verbundene Träume. Keine Zeit. Kein Ort. Keine große Szene… In der Oper tritt die Musik zu stark in den Vordergrund. Zu viel Gesang, und die Vertonungen sind zu bemüht… Mir schwebt ein kurzes Libretto mit beweglichen Szenen vor“. Ein Ideal auch für die Konzerthalle, wenngleich Rattle seinen regelmäßigen szenischen Begleiter für semi-staged Performances, Peter Sellars, hinzugezogen hatte (beide brachten die Oper bereits 1993 in Amsterdam heraus, Rattle gab sie konzertant auch 2006 in Salzburg).
Offenbar geschah die halbszenische Umsetzung so behutsam, dass dem Mitschnitt aus der Barbican Hall keine Bühnengeräusche anzumerken sind und die Rattles Mentor Boulez gewidmete Aufführung mit den präsent platzierten Stimmen so ausgewogen wie aus dem Aufnahmestudio (LSO 3 SACD & 1 Audio Blueray LSO0790) daherkommt. Pelléas et Mélisande klingt unter Rattle wie der Gegenpart zum expressiven Nachtstück Tristan und Isolde, das er vermutlich ebenso häufig dirigiert hat, und bringt besonders seine Fähigkeiten, Farben und motivische Spannungen zwischen Stimmen und Instrumenten ruhig auszuleuchten und den dramatischen Höhepunkten und Kraft und Volumen zu geben, zur Geltung. Die Zwischenspiele werden vom London Symphony Orchestra mit hinreißender Sensibilität und Fluss gespielt. Magdalena Koženás leichter Mezzosopran klingt für die Mélisande etwas zu reif und aufgerieben, zu mütterlich, nicht geheimnisvoll genug, sie singt aber mit Hingabe und verkörpert eine fast aufbegehrende Mélisande. Während ihr Französisch etwas maunschig anmutet, phrasiert Christian Gerhaher um so musterschülerhaft bemühter, nachdrücklicher, dadurch auch etwas unfrei. Er singt den Pelléas mit großer Subtilität und Genauigkeit, spontan im Wechsel der Farben und Stimmungen, allerdings nicht durchgehend auf gleichem Niveau. Beide sind keine idealen Interpreten, gestalten das Drama aber mit großem Ausdruck. Meisterhaft dagegen die Diktion des Kanadiers Gerald Finley, dem mit energisch geballtem Bariton und vokaler Bandbreite ein beachtliches Porträt des zerrissenen, bedrohlichen und verwundeten Golaud gelingt. Geneviève und Arkel sind mit Bernarda Fink und Franz-Josef Selig ausgezeichnet besetzt. Insgesamt eine spannende Aufführung, die manche Akzente nachdrücklicher und auch grandioser setzt als gekannt. Rolf Fath