Ganz und gar ungewöhnlich die Ouvertüre: Tschaikowsky hat die Stimmen in die Bläser gelegt und führt mit fast bizarren Linien in ein fernes Reich, in das Frankreich des guten Königs René. Man muss gleichsam durch ein Tor schreiten, bevor sich im wahrsten Sinn des Wortes ein Garten auftut, in welchem der König seine Tochter Iolanta, geschützt von ihren Begleiterinnen, ohne das Wissen um ihre Blindheit aufwachsen lässt. Ebenso durchschreitet der Hörer ein Tor und tritt in einen Garten, auf den und er sich freilich einlassen muss. Ebenso wie auf die handlungsarme Geschichte und die wiegenden und sich verwebenden Gesänge von Iolanta und ihren Mädchen. Die Geschichte, die Tschaikowskys Bruder nach einem dänischen Schauspiel für die Bühne adaptierte, lässt sich natürlich tiefenpsychologisch als Prozess des Erwachsenwerdens (starker Symbolgehalt kommt den roten und weißen Rosen im Garten zu), der Abkapselung vom Vater und des Verlusts der kindlichen Unschuld deute, darin nicht unähnlich der Mascha im Nussknacker, der am gleichen Abend wie Tschaikowskys letzte Oper in St. Petersburg uraufgeführt wurde. Mich hat Iolanta erst in einer Aufführung in Kiew fasziniert, die so wirkte, als haben alle Damen des Ensembles Blumen gefaltet und genäht und die Bühne damit rundum aufgerüscht, die aber in ihrer Naivität eine rührende Wahrhaftigkeit entfaltete.
Anna Netrebko sang die Iolanta erstmals 2009 im Festspiel Baden-Baden, wo sie Mariusz Trelinski in eine Inszenierung bettete, die natürlich ungleich ambitionierter war (und in der Netrebko dieser Tage an der Met auftritt). Netrebkos Einsatz für Iolanta, die sie anschließend auch mehrfach in konzertanten Aufführungen in Salzburg, Amsterdam oder Barcelona sang, wobei im November 2012 in Essen der DG-Mitschnitt entstand, ist – wie im Fall der Giovanna d‘ Arco – nicht hoch genug zu veranschlagen. Gleich in ihrem ersten Arioso, in dem Iolanta trotz aller Behütetheit doch eine ungewisse Sehnsucht offenbart, zeigt Netrebko, wie fabelhaft ihr die Partie liegt; eigentlich ist die Stimme inzwischen schon zu mütterlich, reif und schwer für die Iolanta, dafür wartet sie mit einer machtvoll strömenden, dunkel glänzenden Mittellage und fülliger Tiefe und eleganten Linien auf.
Das Märchen ist schön: Die Ritter Robert und Vaudémont geraten in den verbotenen Garten. Iolantas künftiger Bräutigam Robert hat sich inzwischen in eine andere verliebt und beschwört die Flammen der Liebe, was Alexej Markov mit solidem, etwas zu väterlich klingendem Verdi-Bariton gelingt, während Vaudémont eher von verborgenen Schönheit schwärmt. Vaudémont trifft auf Iolanta und verliebt sich auf Anhieb in sie. Sergey Skorokhodov ist kein Beczala (der die Partie in Baden-Baden gesungen hatte), ist eher leidenschaftlicher Draufgänger als schwärmerischer Lyriker, passt aber gut zu Netrebko und beider Duett gerät ausgezeichnet. Vaudémont entgeht nur dem Tod, den der König jedem angedroht hat, der Iolanta auf ihre Blindheit hinweist, wenn die Prinzessin nach der geplanten Operation durch den maurischen Arzt sehend wird. Ist es medizinisches Wunder oder Können oder schlichtweg die Macht der Liebe – auf jeden Fall gewinnt Iolanta ihr Augenlicht, worauf alle die Kraft der Schöpfung preisen. Iolanta wird immer ein Mauerblümchendasein fristen, daran rüttelt auch die von Emmanuel Villaume umsichtig einstudierte Aufführung und Aufnahme nichts. Durchweg gut die Besetzung: Vitalij Kowaljow ist mit seinem expansiven und ausdrucksvollen Bass ausgezeichnet als König René, Monika Bohinec charakteristisch als Amme Martha und Lucas Meachem kann gewiss mehr, als er in der Szene des Ibn-Hakia zeigen kann (DG 2 CD 479 3969).
Rolf Fath