Das wird nicht gut ausgehen. Caroline Meeber hat ihr Elternhaus in Wisconsin verlassen, um wie Tausende junger Mädchen in den prosperierenden Jahren am Ende des 19. Jahrhunderts ihr Glück in der Großstadt zu machen. Die Ouverture zeigt ihre Ankunft in Chicago. Sie findet eine Anstellung in einer Schuhfabrik, wo sie den jungen Handlungsreisenden Charlie Drouet kennenlernt. Der Aufstieg ist vorbereitet. Drouet überzeugt sie, den Haushalt ihrer Schwester und ihres Schwagers zu verlassen und in einer kleinen von ihm bezahlten Wohnung als seine Geliebte zu wohnen. Wir denken spontan an Manon, die freilich schon hundert Jahre zuvor den Ausbruch probte, oder Louise. An den Glanz der Großstadt, die Verführung durch den Luxus. Durch Drouet lernt Carrie den unglücklich verheirateten Restaurant-Manager Hurstwood kennen und beginnt eine Affäre mit ihm. George Hurstwood, der sie aufrichtig liebt, nimmt den Scheidungskampf mit seiner Frau auf und bricht mit Carrie, der er vormacht, sie müssen zu Drouet ins Krankenhaus, im Zug nach New York auf. Monate später leben die beiden unter dem Namen Wheeler in einer luxuriösen Wohnung in New York . Während Hurstwood immer mehr verkommt, Geld unterschlägt, ohne Arbeit ist, steigt Carrie langsam zum Broadway Star auf, sie erfindet sich sozusagen neu, wie Opernlibrettist Herschel Garfein mit Verweis auf einen heutigen Code bemerkt. Nach einer letzten Begegnung mit Carrie geht George in seine armselige Unterkunft in der Bowery und dreht das Gas auf, während Carrie sich im Theater mit ihrem Song „Why I’m Single“ feiern lässt. Theodore Dreisers Roman Sister Carrie von 1901 ist einer der zentralen amerikanischen Roman jener Jahre und ein Hauptwerk des literarischen Naturalismus, der im Sinne von Zola, ein ungeschminktes Bild des Alltags zeigt und seine Protagonisten unter verschiedenen Rahmenbedingungen beobachtet. In einer der letzten Szenen des Romans und der Oper liest Carrie übrigens in Balzacs Père Goriot. Während Carrie über das Theater den sozialen Aufstieg schafft, geht der einst gut situierte und erfolgreiche Geschäftsmann Hurstwood unter. Also doch anders als erwartet.
Dreisers Roman hätte freilich bereits von seinem Bruder Paul Dresser vertont werden können, der seine Songs der Tin Pan Alley anvertraute, doch obwohl bereits die frühen Musicals die Bühne- auf-der-Bühne-Situationen liebten, war die Zeit für eine derart schonungslose sozialkritische Story nicht reif. Berühmter als Sister Carrie wurde freilich auch erst Dreisers An American Tragedy von 1925, die die Vorlage von Tobias Pickers 2005 an der Met uraufgeführter gleichnamiger Oper ist, in der – neben einer illustren Besetzung – Nathan Gunn den wie Carrie nach sozialem Aufstieg gierenden Clyde Griffiths kreierte.
Sister Carrie von Robert Livingston Aldridge wurde unter weniger günstigen Umständen im Oktober 2016 von der Florentine Opera Company in Milwaukee uraufgeführt (Naxos 2 CD 8.669039-40 mit komplettem Libretto und einer lesenswerten Einführung des Librettisten Herschel Garfein), wobei alle Mitwirkenden der Florentine Opera Company einen guten Job machen und vor allem Keith Pharee mit seinem sämigen Bariton zeigt, dass der Hurstwood durchaus für einen ersten amerikanischen Bariton erstrebenswert sein könnte. Das heißt aber auch, dass der 63jährige Aldridge eine gut singbare Musik geschrieben hat und inmitten all der schier unzähligen Szenen, die beispielsweise auch während eines Duetts von einem Ort zum andere wechseln, und den vielen kleinen Partien, Raum für gesangliche Inseln lässt. Sei es Carries „Everything is paid for“ in Drouets Wohnung oder die zahlreichen Soloszenen Hurstwoods, die ihn – angefangen von „My dears, why have you forsaken me?“ bis zum ergreifenden Rezitativ und Arie „You’re a dandy, Hurstwood“ – für mich zur eigentlichen Hauptfigur der Oper machen, während Adriana Zabala mit reif klingendem Mezzosopran als Carrie wenig Profil entwickelt und Matt Morgan als Drouet etwas anämisch bleibt. Anfangs klingt der Zweiakter nach praktikabler Dutzendware, vieles ist einfach nur nett wie die ausführlichen Essenbestellungen, „Sirloin with mushrooms … stuffed tomatoes…Asparagus…hashed brown potatoes“ und schließlich „Yorkshire pudding“ – „We forgot soup“ – sehr gekonnt sind die buntscheckigen Ensembles, die Duette, mehrere Quartette, doch vor allem die von William Boggs mit dem Milwaukee Symphony Orchestra und dem Florentine Opera Corus gut austarierten großen expressiven Chorszenen entwickeln theatralische Sogkraft. Letztlich ist es vermutlich aber doch eher der Roman und nicht die ordentliche Vertonung, die fesselt.
Der 90jährige Dominick Argento (Miss Havisham’s Fire, Postcard from Morocco) könnte vermutlich alles vertonen. Eine Naxos-Ausgabe (8.559828) vereint zwei seiner Gesangszyklen nach Tagebuchaufzeichnungen, die 13 Lieder The Andrée Expedition (1982) und die acht Lieder From the Diary of Virgina Woolf (1974). Die Tagebucheinträge und Briefe um die 1897 tragische gescheiterte Gasballon-Expedition zum Nordpol von Salomon Andrée, Nils Strindberg und Knut Fraenkel – deren Körper 33 Jahre später geborgen wurden, ebenso wie die Aufzeichnungen von Andrée und Strindberg – sowie die Tagebuchaufzeichnungen der Virginia Woolf geben dem mehrfach in Zürich (Sharpless, Jeletzky) und Frankfurt (Golaud, Luna, bald Nelusco) aufgetretenen Brian Mulligan die Möglichkeit, sich vorteilhaft zu präsentieren. Begleitet von Timothy Long, ist er ungemein kraftstrotzend, ein wenig eindimensional und in den leisen Passagen nicht sehr klangvoll im ersten Zyklus, dann etwas subtiler und klangspielerisch in den von Janet Baker kreierten Woolf-Liedern.
Etwas ratlos stehe ich der umfassenden Darwin-Hommage Age of Wonders des britischen Komponisten Michael Stimpson (*1948) vis-a-vis. Als Auftragswerk zum 200. Geburtstag des maßgeblichen Naturwissenschaftlers 2009 entstand die Abfolge aus einer Violinsonate (The Man Who walked with Henslow), einem Streichquartett (Streichquartett No. 2 The Beagle), einem dreisätzigen Orchesterwerk (An Entangled Bank) und einem weiteren vierteiligen Orchesterstück (Transmutations), deren Abschnitte sich auf die Biografie bzw. das Schaffen Darwins beziehen. Aufgenommen wurden diese Stücke im Februar 2014 in London mit den Solisten Maya Iwabuchi, Fiona Cornall (Violine), Nicholas Bootiman (Viola), Karen Stephenson (Cello) und Tom Poster (Klavier) sowie dem Philharmonia Orchestra unter Stuart Stratford. Angehängt sind die sechs bereits im Jahr 2009 aufgenommenen Beiträge aus Darwins Autobiografie und seinen Schriften, gelesen vom Komponisten, Robert Tear sowie weiteren Sprechern, komplett nachzulesen im (englischsprachigen) Beiheft, das den Hörer anhand der Musikwerke auch auf eine informative Reise durch Darwins Leben führt (2 CD, Stone Records 5060192780/ 80741). Ich gestehe, ich konnte für die beiden CDs nicht die angebrachte Bewunderung aufbringen und die grauschlierigen Transmutations fand ich geradezu frustrierend. Rolf Fath