Warum?

Geradezu unstillbar muss der Drang Plácido Domingos sein, sich unermüdlich auf dem Gebiet der Oper zu betätigen, sei es als Sänger, Tenor oder Bariton, als Intendant, Lehrer, als Begründer eines Gesangswettbewerbs oder als Dirigent, und da scheint es nur eine untergeordnete Rolle zu spielen, welche Qualität das dabei entstehende Produkt hat. Wäre es anders, hätte der Künstler sich nicht auf ein Unternehmen wie die Aufnahme von Puccinis Manon Lescaut  mit dem Tenor Andrea Bocelli als Des Grieux eingelassen. An der Seite von Ana Maria Martinez und mit vielen jungen Sängern des Centre de la Comunitat Valenciana Plácido Domingo in den kleinen Rollen gibt der Sänger eine peinliche Probe seines Könnens und der desolaten Verfassung seiner Stimme ab. Dem Dirigenten Domingo kann man keinen Vorwurf machen, denn das Orquestra de la Comunitat Valenciana spielt unter seiner Leitung frisch und spritzig, wie es die junge, elegante Partitur verdient, und der Meister weiß auch die lyrisch-emphatischen Teile voll auszukosten.

Ana Maria Martinez, die augenblicklich vor allem in Amerika singt und bei Puccini zu Hause ist, hinterlässt als Manon einen zwiespältigen Eindruck. Die Stimme hat den mädchenhaften Klang von einst verloren, klingt in den besseren Passagen, so des ersten und des ersten Teils des zweiten Akts, fraulich, warm und reich an Farben. Die Leichtfertigkeit des jungen Mädchens ist kaum zu vernehmen, am ehesten noch in ihrer Canzone, und in „In quelle trine morbide“ ist auch il canto morbido, in den schlechteren Passagen hört sich der Sopran bereits matronenhaft an, im vierten Akt ist er entschieden überfordert, und die Höhen klingen scharf. Bruder Lescaut findet in Javier Arrey einen viril klingenden Bariton, der nur im Piano etwas nasal klingt und in der Höhe nicht ganz frei erscheint, insgesamt aber eine ordentliche Besetzung ist. Der übliche Geronte mit Altherrenbass, was hier ja nicht unrecht ist, tritt mit Maurizio Muraro in Erscheinung. Etwas schüchtern, mit hübschem Mezzotimbre singt Mariam Battistelli den Musico.

Der erste Eindruck vom Tenor Bocellis ist der eines Reibeisens, die Stimme ist dunkel, die Höhen werden gestemmt, Legato und großzügige Phrasierung sind nicht zu vernehmen, viele Phrasen, die andere Tenöre auf einem Atem singen, werden gnadenlos zerhackt, „Nell‘ occhio tuo profondo io leggo il mio destin‘“ ist eines der vielen Beispiele dafür.  Die gesamte Partie wird nicht gestaltet, sondern das reine Bemühen um ihre technische Bewältigung steht im Vordergrund. Das führt zwangsläufig auch zu einer hölzern und hart wirkenden Monotonie. Dagegen ist sogar der nicht besonders stimmschöne Edmondo von Matthew Pena ein vokaler Lichtblick. Die Decca hat ihrem Star Domingo, dem sie sicherlich viel zu verdanken hat, mit dieser Aufnahme keinen Gefallen getan- und den Sängern auch nicht (Decca 478 7490).

Ingrid Wanja

  1. Phillip Schwarz

    Einerseits ist es schon erstaunlich, wie viel Substanz Bocelli’s Stimme nach mehr als 20 Jahren immer noch aufzuweisen hat – andererseits ist aber auch nicht zu überhören, wo der 1958 geborene Sänger inzwischen Kompromisse machen muss. Beim Abhören seiner jüngsten Opernaufnahme, MANON LESCAUT aus dem Jahr 2014, wird einmal mehr deutlich, wie sehr er an Vorgängern und Vorbildern orientiert ist, deren Stimmen er genau studiert haben muss und deren Aufnahmen er im Detail zu kennen scheint. Kein Wunder bei einem Sänger, der kein Augenlicht besitzt und der sich daher ausschließlich am Hörbaren orientieren muss. In lyrischen Passagen erinnert sein Stimmklang immer noch an Pavarotti, im Heldischen meint man den unvergleichlichen Corelli zu hören, aber insgesamt tendiert er stilistisch zunehmend zur robusten und immer etwas draufgängerischen Interpretation seines Kollegen Mario del Monaco, freilich ohne dessen rhythmische Ungenauigkeiten. Was ich schmerzlich vermisse, sind der Schmelz und die stimmliche Eleganz früherer Jahre. Trotzdem bietet Bocelli ein interessantes Rollenportrait. Ähnliches lässt sich von Ana Maria Martinez in der Titelpartie sagen – nicht uninteressant, aber auch nicht herausragend. Auffälligstes Manko ist ihre unausgeglichene Höhenlage, schlecht gestützt im Piano und nicht perfekt fokussiert im Forte, dadurch mit einem unangenehmen Hang zum Flackern. Die restliche Besetzung ist solide und im Wesentlichen ohne Tadel. Placido Domingo lässt am Dirigentenpult jede Inspiration und hörbare Akzente vermissen. Das Intermezzo des 3. Aktes muss nicht so beiläufig klingen wie in dieser Aufnahme.

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