Meyerbeers „Vasco de Gama“

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Ich gebe zu: Ich war skeptisch und wartete doch ungeduldig auf die brandneuen cpo-CDs des Vasco de Gama, der nun in seiner eigentlichen und vom Komponisten beabsichtigten Form vorliegt und die alte, korrupte Africaine  ersetzt (dazu nachstehend der zuammenfassende Artikel von Carla Neppl aus dem Programmheft der Aufführungen der Oper Chemnitz 2013, der auch dem Booklet der CD-Ausgabe beiliegt). Ich hatte die Radioübertragung vom Deutschlandradio im Februar 2013 gehört, die die Grundlage der cpo-Veröffentlichung ist.

Und stellte beim Anhören der 4 randvollen CDs genau dasselbe fest wie am Radio: Gegenüber den Live-Aufführungen im Saal der Oper Chemnitz klingt hier vieles grauer, weniger inspiriert, weniger schmissig, weniger motiviert, bei den Solisten, aber auch im Orchester der Robert-Schumann-Philharmonie. Und mir will scheinen, dass auch Dirigent Frank Beermann andere, langsamere, breitere Tempi nimmt und vielleicht ohne Publikum auf mehr Perfektion als Drive bedacht ist. Man hört zudem die unterschiedlichen Befindlichkeiten der Mitwirkenden bei den einzelnen Takes, die manchmal müde und manchmal sehr viel vitaler klingen. Denn das ist genau das Problem dieser CDs: Sie sind ohne Publikum an vier Tagen während des laufenden Betriebes mitgeschnitten worden. cpo favorisiert – anders als die Kollegen bei Naxos oder Oehms – die „Studio“-Konditionen vor den Liveaufnahmen. Das hat sicher seine Gründe.

Szene "Vasco de Gama" in Chemnitz/c. Dieter Wuschanski

Szene „Vasco de Gama“ in Chemnitz/c. Dieter Wuschanski

Kein Publikum rächt sich hier einmal mehr, denn Chemnitz ist nicht das Paris der Fétis-/Meyerbeer-Zeit, wo die größten Stars (im Range einer Sutherland, Callas und Pavarotti plus Horne an einem Abend) auftraten und für die Meyerbeer diese Musik geschrieben hatte. Pauline Viadot war seine Fidès gewesen, Maurice Fauré war der Nélusko der Uraufführung, Marie Saxe die Sélika – das war das Beste, das damals auf der Bühne stand. Ein mittelgroßes Haus wie Chemnitz muss da mit anderen Resourcen aufwarten, und die heißen Temperament, Engagement, Elan, selbstloser Einsatz, was  nur eine Live-Aufführung ermöglicht, wo das Adrenalin, die Bühnenpräsenz, die Inszenierung (und die war von Jacob Peters-Messer wirklich minimalistisch-umwerfend, die ökonomischen Zwänge genial zum Großen wendend).

Sieht man und hört man das alles nicht, ist man beim Nur-Hören eben nicht so gepackt von dem unglaublichen Einsatz aller Mitwirkenden, die in den Aufführungen, namentlich der Premiere, über sich hinaus wuchsen. Aber ich ziehe meine  Hut vor dem Mut und dem Entdeckergeist der Oper Chemnitz, uns diese inzwischen vielen wunderbaren Titel ausgegraben und präsentiert zu haben, trotz der obigen Einschränkungen. Da bleiben andere, größere Theater weit zurück. Und auch ein Lob an cpo, sich diesen Vorhaben angeschlossen zu haben. Außer diesem Label machen das nur ganz wenige andere, und deshalb ein dickes Dankeschön, die Chemnitzer Ausgrabungsarbeit veröffentlicht zu haben. G. H.

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Szene "Vasco de Gama" in Chemnitz/c. Dieter Wuschanski

Szene „Vasco de Gama“ in Chemnitz/c. Dieter Wuschanski

Nachstehend fasst Carla Neppl die wesentlichen Merkmale dieser neuen, ultimativen Version des Vasco de Gama zusammen, und die Aufnahme in der Edition von Jürgen Schläder ist deshalb hochinteressant. Sie rückt das Bild der korrupten und stets als unglücklich empfundenen Africaine zurecht und gibt ihr die angemessene Form der kohärenten Grand Opéra, für die Meyerbeer berühmt war, die er ja so gut wie erfunden hatte. Frank Beermann hat sein Orchester gut im Griff: Da klingt es – bei zu muffig-dunkler Akustik – kompakt bei schönen Holzbläsern und tollem Blech, da ist die Programmmusik der Meeresfahrt bezaubernd, das Marzialische des Nélusko bedrohlich, Sélikas musikalische Reise in ihren Tod anrührend und die Aktschlüsse schmissig. Auch der Chor des Hauses bedeckt sich mit Ruhm (Simon Zimmermann) und trägt zur Wirkung der Aufnahme bei, der eben leider das Unspontane, Konzertante anhaftet.

Bei den Solisten machen die Herren die bessere Figur. Bernhard Berchtold klingt bei exzellentem Französisch und deutschem Timbre als Vasco ungemein sympatisch, engagiert, strahlend, schwärmerisch (man höre das Finale des 1. Aktes auf CD2): Er macht einen wirklich guten Job in dieser gemein schweren Partie, die sich in die Kette der visionären-heroischen Tenöre Meyerbeers einreiht – ein seefahrender Bruder des Jean und des Robert. Das ist eine nachdrückliche Leistung des Sängers, der hier einen greifbaren, sympatischen und gut gesungenen jungen und bedenkenlosen Feuerkopf vor uns stellt und der die immensen Schwierigkeiten der Partie wie im Spaziergang meistert. Seine Schlüsselszenen (so die berühmte Arie, die nun „Oh douce clima…“ heißt) zeigen ihn in bester, höhenstarker aber auch ungemein beteiligter Verfassung, bravo!

Sélika wird von der mutigen Claudia Sorokina gegeben mit just der Mischung aus Sopran und (hier reichlich brustigem) Mezzo, ein Falcon, wäre rein akustisch die Stimme liebenswürdiger und wäre ihre Diktion präsenter, so bleibt sie mir zu „gaumig“, zu scharf auf der Höhe (besonders da, wenn Druck drauf kommt), zu allgemein, eher eine Amneris oder Preziosilla denn Sélika – aber ihr Finale ist eine Achtung gebietende Tour-de-Force. Guibee Yang gibt eine kindlich-entschlossene, in der sicheren oberen Lage recht metallische Inès durchaus mit Biss – auch sie mit seriöser Aussprache des Allgemeinen. Aber es ist auch ein Phänomen, dass beide Sängerinnen ihre hohen Noten nur mit erhöhter Lautstärke erreichen, was den Figuren die Weichheit nimmt und sie ins Angestrengte, weniger Lebenswürdige manövriert.

Pierre-Yves Pruvot aus Lyon ist für mich neben dem Tenor der zweite Star der Aufnahme und stellt als Franzose natürlich seine Mitstreiter mit seiner eben „französischen“ Bewältigung der Partie in den Schatten, auch er beeindruckend und auch er live noch vitaler. Und bei ihm hört man, was Kommunikation in der eigenen Sprache ist. Er hat einen hervorragend sitzenden, eher lyrischen Bariton, der gut ins Ohr geht und uns eben eine Geschichte erzählt, keine Übersetzung, was sicher auch seine Beschäftigung mit Liedern/Mélodies mit sich bringt. Das ist die richtige Stimme in der richtigen Rolle. Mit Kouta Räsänen als markigem Don Pédro und mit Ralf Broman (Oberpriester/Großinquisitor), André Riemer, Martin Göbler, Tiina Pentiinen, Tommaso Randazzo, Harald Meyer, Thomas Fröb, Thomas Seidel, Björn Werner, Stefan Kringel sowie Jann Schröder  (in den kleineren Partien als Ratsmitglieder, Matrosen, Priester u. a.) vervollständigt sich das Ensemble, mit dem die Oper Chemnitz sich würde- und respektvoll dem Vasco de Gama von Meyerbeer annähert. Zudem liegen erhellende Artikel von Carla Neppl und Jacob Peters-Messer sowie das Libretto dreisprachig (!!!) bei, das allein ist schon verdienstvoll. Geerd Heinsen

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Die vier Prinzipalen der "Africaine" 1865/Gallica

Die vier Prinzipalen der „Africaine“ 1865/Gallica

Die Entstehung der Oper: Nach dem großen Erfolg von Robert le Diable und Les Huguenots in Paris, unterzeichneten Giacomo Meyerbeer und Eugène Scribe 1837 den Vertrag für eine weitere große Oper: L’Africaine sollte ihr Titel sein. Die Uraufführung war drei Jahre später in Paris geplant. Scribes Libretto erzählte die Geschichte einer afrikanischen Königstochter, die sich unglücklich in einen portugiesischen Seeoffizier verliebt. Als er sich zugunsten seiner langjährigen Geliebten gegen sie entscheidet, sucht sie den Tod in den giftigen Düften des Manzanilla Baums. Meyerbeers anfängliche Begeisterung für das neue Projekt wich schon bald der Erkenntnis, dass L’Africaine inhaltlich nicht an seine beiden ersten Opern heranreichen würde. Es folgten Jahre der Überarbeitung. Schließlich entschied er sich, seine Kraft zunächst in andere Werke zu investieren. So wurde u. a. 1843 in Berlin Das Feldlager in Schlesien, 1849 in Paris Le Prophète uraufgeführt.

Bühnenbild zur "Africaine"/OBA

Bühnenbild zur „Africaine“/OBA

Erst danach nahmen Meyerbeer und Scribe die Arbeit an L’Africaine wieder auf. Die allgemein gehaltene Figur des portugiesischen Seefahrers wurde zu dem bekannten Abenteurer Vasco da Gama und erhielt damit eine entscheidende politische Dimension, wobei Meyerbeer und Scribe relativ frei mit der historischen Vorlage umgingen. Da Vasco da Gama aber den Seeweg nach Indien entdeckt hatte, mussten die betreffenden Szenen von Afrika nach Indien verlegt werden. Folgerichtig wollte Meyerbeer das Werk umbenennen: In der französischen Form des Namens sollte es Vasco de Gama heißen. Doch noch immer konnte sich Meyerbeer nicht zu einer Endfassung durchringen. Der plötzliche Tod von Eugène Scribe 1861 tat ein Übriges. Die deutsche Schauspielerin und Autorin Charlotte Birch-Pfeiffer verfertigte nun nach Meyerbeers Vorgaben die noch fehlenden Texte. Am 29. November 1863 notierte er in seinem Tagebuch: „7 Stunden gearbeitet: die letzte Szene der Sélika instrumentiert  u. revidiert, u. damit die ganze Partitur von Vasco beendigt. Es bleiben nun nur die Ouvertüre und Ballettstücke u. die möglichen Veränderungen übrig. Gott segne das Werk und verleihe ihm einen glänzenden u. dauernden Erfolg gleich bei seinem Erscheinen. Amen.“  In den folgenden Wochen nahm er immer wieder kleinere Revisionen vor. Am Neujahrstag 1864 brachte er im Tagebuch die Hoffnung zum Ausdruck, dass sein Vasco im kommenden Jahr zur Aufführung käme. Noch bevor allerdings die Proben beginnen konnten, starb Meyerbeer am 2.Mai 1864.

Entwürfe zur "Africaine" 1865/Gallica

Entwürfe zur „Africaine“ 1865/Gallica

Nach Meyerbeers Tod erklärte sich der belgische Musikwissenschaftler (und Komponist) François-Joseph Fétis bereit, im Auftrag der Pariser Grand Opéra das vorhandene Material zu sichten und eine spielbare Fassung herzustellen. Diese verdienstvolle Arbeit wurde insgesamt leider durch teilweise unglückliche Eingriffe in das Werk geschmälert. Zunächst war Fétis der Meinung, dass man der Musikwelt die versprochene Oper L`Africaine geben müsse, eine Titeländerung nach Meyerbeers Wunsch in Vasco de Gama nur Verwirrung stiften würde. Da er aber Vasco als Figur genauso beibehielt wie die indischen Brahma-Kult-Szenen, ergaben sich nun Ungereimtheiten in der Handlung, denn Sélika war definitiv keine „Afrikanerin“. Außerdem nahm Fétis inhaltliche Änderungen und Kürzungen am Werk vor. Neben diversen Textänderungen und Weglassungen von Wiederholungen betrafen die Kürzungen vor allem den dritten und den fünften Akt. Im dritten Akt sparte Fétis das Trinklied der Matrosen aus. Außerdem kürzte er den Akt nach dem Duett zwischen Vasco und Don Pédro extrem: Es folgte gleich die Sturmszene mit dem anschließenden Übergriff der Inder. Die Szene, in der Sélika Inès bedroht und damit Don Pédro zwingt, seinen Tötungsbefehl gegen Vasco zurückzuziehen, entfiel genauso wie das Duettino zwischen Sélika und Nélusko vor der erwarteten Erschießung. Dafür fand Fétis jedoch im fünften Akt Verwendung. Außerdem fehlte die Passage am Schluss des Aktes, in der Sélikas Identität von Nélusko öffentlich bekanntgegeben wird. Erwähnt sei im vierten Akt die Änderung an Vascos b erühmte  Arie „Ȏ paradis“:Dieser romantisierende Textbeginn stammt ebenfalls von Fétis. In Meyerbeers Version beginnt sie mit dem Text „Ȏ doux climat“ und ist auch musikalisch etwas anders gestaltet. Der fünfte Akt begann bei Fétis mit der Szene zwischen Sélika und Inès. Der Zuschauer erfuhr also weder, wieso Inès, die eigentlich mit den anderen Portugiesinnen unter dem Manzanilla-Baum den Tod finden sollte, noch lebt, noch dass Inès und Vasco sich wiedergefunden hatten. Auch Sélikas Szene am Manzanilla-Baum wurde verkürzt: Sowohl die Vision, in der ihr Vasco noch einmal erscheint, als auch ihr anschließendes langsames Verdämmern durch die Wirkung der giftigen Dämpfe strich Fétis zugunsten einer schnellen Schlussentwicklung. Offensichtlich wollte er der Nélusko-Figur noch einmal dramatisches Gewicht verleihen und stellte vor den Schlusschor das vorher im dritten Akt gestrichene Duettino.

Vasco de Gama - Gemälde von dewagtere/OBA

Vasco de Gama – Gemälde von Dewagtere/Wikipdia

Trotz aller dieser Änderungen war die Uraufführung knapp ein Jahr nach Meyerbeers Tod am 28.April 1865 in Paris ein Riesenerfolg. Wie groß die Wertschätzung für Meyerbeer war, lässt sich daran messen, dass das französische Kaiserpaar der Vorstellung beiwohnte und man am selben Abend auf der Bühne eine Büste des Komponisten enthüllte. Die Africaine  trat ihren Siegeszug um die Welt an, der erst durch das Verbot der Nazis im 20. Jahrhundert gestoppt wurde. Bis dahin war sie Meyerbeers meistgespielte Oper. Nach 1945 gab es deutlich weniger Aufführungen.

"L´Africaine": Frontespiece des Klavierauszugs/OBA

„L´Africaine“: Frontespiece des Klavierauszugs/OBA

Nach und nach beschäftigte sich auch die Forschung intensiver mit dem Werk und mit Meyerbeers Originalmaterial. Anhand der umfangreichen hinterlassenen Schriften ist sein Arbeitsstil noch heute gut nachvollziehbar. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, seine Werke während der Proben intensiv zu überarbeiten. Aus diesem Grund wissen wir also nicht, wie Vasco  ausgesehen hätte, wenn Meyerbeer selbst bis zur Premiere dabei gewesen wäre. Uns liegt die Oper heute so vor, wie er sie zu diesem Zeitpunkt als beendet betrachtet hatte. Die kritische Ausgabe von Jürgen Schläder, erschienen beim Verlag Ricordi, ermöglicht damit erstmalig eine Aufführung aller veröffentlichten und unveröffentlichten Werkteile, die bei Meyerbeers Tod vorlagen. Carla Neppl

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Giacomo Meyerbeer: Vasco de Gama mit Bernhard Berchtold/Vasco, Claudia Sorokina/Sélika, Pierre-Yves Pruvot/Nélusko, Guibee Yang/Inès, Kouta Räsänen/Don Pédro, Rolf Broman Großinquisitor/Oberpriester; Chor der Oper Chemnitz/Simon Zimmermann; Robert-Schumann-Philharmonie, Leitung: Frank  Beermann; 4 CD cpo 777 828-2/ Bisherige Beiträge in unserer Serie Die vergessene Oper finden Sie hier