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Und noch einer, seufzte man als Sammler und Opernliebhaber, als das Label LSO die geplante Veröffentlichung von Meyerbeers Prophète aus Aix bekannt gab. Aber zur meiner wirklich absoluten Überraschung ist diese Neueinspielung (als live angegeben, aber dazu später mehr) in Hinsicht auf Besetzung und Fassung wohl doch die ultimative unter den verfügbaren, denn rundherum wird hier am besten, eben sensationell gesungen. Man mag – wie ich – ein wenig über die recht dunkle Akustik und über Mark Elders zum Teil mir zu langsame Tempi grummeln (was die Oper in Teilen unnötig redundant wirken lässt, aber lang ist sie gewiss), und manche Momente seiner Interpretation scheinen mir orchestral nicht transparent genug, sind mir zu aufgetürmt, zu massiv, zu marzialisch (so das berühmte Ballett auf dem Eis). Da hat die Frankfurter Oehms-Einspielung die Nase vorn, wenngleich der Titelheld dort eher blander schien und nun – in Aix – sich als ganz großer Sänger in der Nachfolge von Nicolai Gedda (als Jean in dem alten Mitschnitt aus Rom) erweist.
Es sind die Solisten und die ungekürzte neue Fassung, die für mich das Gewicht dieser sensationellen neuen Aufnahme ausmachen. „Ungekürzt“ wird im Beiheft mit dem Artikel von Etienne Jardin nicht ausgeführt, nur „angerissen“ (wie alle anderen Beiträge dreisprachig!, was für eine Seltenheit angesichts des deutschsprachigen Raums in Europa), aber nicht so gut erklärt wie Matthias Brzoska in dem hochinformativen Beitrag zur Essener Aufnahme bei Oehms, Berthes Arie und Duett originale Tonart, Selbstmord zum Saxophon und vieles mehr. Das wird die Sammler interessieren, denn außer Essen haben alle verfügbaren Aufnahmen vorher barbarische Striche, und sie benutzen zudem natürlich die alte Brandus-Fassung.
Wie bereits erwähnt hadere ich etwas mit Mark Elders Sicht der Tempi, die mir in Teilen (wie im 1. Akt) zu schleppend in der Interaktion der Personen scheinen. Die fehlt vielleicht doch die Theater-Spontanität. Andererseits ist Elder mir in Teilen zu massiv, zu kompakt im Klang und betont Meyerbeer als Quasi-Sinfoniker. Worin Elder seinem Kollegen Giuliano Carella in Essen ähnelt, der ebenso breite Tempi bevorzugt. Der neue Vasco da Gama bei Naxos ist da für mich vorbildlicher und bietet ein weit mehr durchgefächertes Klangbild, zudem auch (bedingt) live. Es geht also, und nicht so altherrenmäßig wie bei Elder. Das führt Antonello Manacorda in Frankfurt exemplarisch vor, bei einer fabelhaften Raumstaffelung.
Live war eingangs das Stichwort. Und live ist eben nicht unbedingt ein Live-Mitschnitt, wie man vermuten möchte. Es gibt keinen Beifall, alle Nebengeräusche wurden (technisch?) entfernt, was für den akustischen Flickenteppich verantowortlich ist, wenn man die neue Aufnahme mit Kopfhörern genießt. Denn die vielen, vielen takes machen doch eine gewisse akustische Achterbahn im Ohr aus: Es wurde sehr viel korrigiert und einzeln nach-/auf-genommen, Nah- und Fern-Einsätze folgen etwas verwirrend aufeinander, die akustische Aura wechselt. Also ist dies kein Radioband von France Musique, sondern viel Kleinarbeit. Verständlich, aber doch nicht angezeigt. Und es gibt keine Aufnahmedaten, nur ein lakonisches „recorded in July 2023“, dagegen aber technisch in in SACD hybrid und in Zusammenarbeit mit dem Palazzetto Bru Zane (LSO 0894, 3 CD mit dreisprachigem Booklet und Libretto)..
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Diese Aufnahme-Sorgfalt wirkt auf die Aufnahme als Ganzes wirklich lohnend aus. John Osborn in der Titelrolle singt wie ein Gott! Sein Problem ist es vielleicht, dass er nicht wirklich ein prägnantes Timbre besitzt, dass seine Stimme per se nicht wirklich interessant ist (anders als etwa die von Richard Leech in den Erato-Huguenots, unerreicht). Das gilt aber letzten Endes für seinen von mir so hochgeschätzten Kollegen Michael Spyres ebenso, der per Timbre nicht wirklich aufregend klingt, sondern per Interpretation und Gesang besticht. Beide Herren sind Künstler ihres Metiers, beide können eben sensationell singen.
Und John Osborn hat nach seinem eher blanden Toulouser und Essener Jean eine weite Strecke zurückgelegt, ist absolut in der Rolle richtig, singt in vielen Momenten mit betörender voix mixte und scheut sich nicht, in herzzerreißendem pianissimo hochgelegene Töne fast im Falsett zu bewältigen statt sie herauszubrüllen. Seine Charakteranlage des zerrissenen Jean, namentlich in der Wiederbegegnung mit seiner Mutter, ist eine bewegende Studie in menschlicher und eben musikalischer Charakterisierung. Ich bin sehr, sehr beeindruckt davon und dachte viel an Nicolai Gedda, dem manche Wendungen von Osborn in dieser Rolle frappierend ähneln. Er hat wirklich seine Hausaufgaben gemacht. Klang er mir im jüngsten Robert le Diable viel zu weisss, zu amerikanisch auf der Höhe, so ist seine Stimme nun rund, gedeckt, aussagekräftig, markant. Das passaggio ist beispielhaft, seine messa di voce exemplarisch und seine Diktion ohne Fehl. Seine gegenüber Spyres weichere Tenorstimme mittlerer Größe passt zu diesem Jean ungemein. Eine fabelhafte Leistung. Ich komme ins Schwärmen.
Und ich schwärme weiter. Besonders für die wirklich sensationelle Elizabeth DeShong als Fidès. Auch sie erinnert in einigen tief gelegenen Wendungen an ihre Rollen-Vorgängerin, eben Marilyn Horne, in entscheiden Momenten mit dem unverstellten Griff in das absolut wahnsinnige Brustregister, dies natürlich vor allem in der alles sprengenden Arie im 4. Akt, die aber eben nicht nur eine der ganz großen Bravourarien (für Pauline Viardot) ist sondern hier genial schon viel früher angelegt wird (mit eingeschobenem Chor). DeShong fegt mit ihren drei Oktovanen durch die Partie wie ein Orkan, hat aber auch viele weichere Momente zuvor, etwa im bezaubernden Duett mit Berthe zu Beginn. Hing die Kritik an der Essener Aufnahme bei Oehms an der unterbelichteten Fidès, so kann die neue mit eben dieser aufregenden von Elizabeth DeShong prunken. Sowas hat man lange nicht mehr, wenn überhaupt, gehört. Die (oft nach Traktorfahrerin klingende Fidès der) Horne hat hohe Maßstäbe gesetzt, aber die DeShong fügt der Partie vieles an dort fehlender Weichheit, an Fürsorge und schön gesungener Mütterlichkeit hinzu.
Und zum Dritten ist Mané Galoyan aus den USA ein Gewinn. Zu Beginn gebührend timide schwingt sich ihr entzückender Sopran zu entschlossenen Tönen empor, verfügt über unglaubliche Höhenwirkung und wie ihre Rollenvorgängerin Margherita Rinaldi in Rom über eben diese entschlossene Leuchtkraft des sich namentlich in der oberen Lage entfaltenden Soprans. Absolut bezaubernd. Und wie ihre Kollegen absolut wortverständlich.
Die Sprach-Coaches in Aix müssen Überstunden gemacht haben. Mäkelte ich beim Robert le Diable vom Palazzetto noch über die Wort-Unverständlichkeit mancher Sänger so kann man hier buchstäblich mitschreiben. Das hat man so lange nicht mehr erlebt, denkt man an das Esperanto der vielen Opern-Aufnahmen jüngerer Zeit.
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Auch die übrigen halten dies Niveau, allen voran der markant timbrierte Edwin Cross-Mercer als Comte de Oberthal, dräuend und sonor die arme Berthe verfolgend. Valerio Contaldo sticht mit seinem bemerkenswerten Tenor aus der Gruppe der Anabaptisten heraus (James Platt und Guilhem Worms sind die beiden anderen). Hugo Santos, David Sanchez und Maxime Melnik machen als drei Soldaten ebenfalls was her. Gut ausgesucht. Der Chor vom Opernhaus Lyon unter Benedict Kearns und der Kinderchor Bouches-du-Rhône unter Samuel Coquard vervollständigen überzeugend das vokale Bild. Mark Elder hat seinem LSO Orchester zu einem heißen Sommer im schönen Aix verholfen, während das Mediterranean Youth Orchestra sich um die an Verdis Autodafé erinnernden Banda-Einlagen kümmert. Und vielleicht ist es auch Elder zu verdanken, dass man nun oft an Späteres nach Meyerbeer denkt, nicht nur an Verdi.
In Summa also ist dies wirklich eine bedeutende, wichtige Neuaufnahme von Meyerbeers Propheten, ganz sicher für mich trotz kleiner Einschränkungen im Klang und Dynamikbereich die ultimative und wichtigste bislang. Was sind wir doch reich an dieser Musik.
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In dem Artikel zur Essener Ausgabe bei Oehms (darin auch als Übernahme der hochinformative Artikel von Markus Brzoka zur Ersteinpielung der neues Meyerbeer-Ausgabe) machte ich einen Rückblick auf Vergangenes, das war 2018. Seitdem ist in Sachen Prophète nicht viel Neues hinzugekommen, und der Bequemlichkeit wiederhole ich hier einiges vom bereits Gesagten.
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Der berühmte (Meyerbeer-)Knoten platzte für mich anlässlich der DOB-Version des Propheten in Berlin 2017, nicht so sehr wegen der lässlichen Umsetzung durch Olivier Py (Sohn des bekannten Tenors), sondern wegen des wissenschaftlichen Umfeldes. Ich habe mich zum ersten Mal in meinem langen Kritikerleben deswegen damals so richtig mit Meyerbeer beschäftigt. Da gab es das hochspannende Symposium in der DOB und vier Meyerbeer-Opern zu erleben (mit der konzertanten Dinorah fing alles an): Meyerbeer satt möchte man sagen. Bis dahin hatte ich ihn „nur“ als so eine Art „etwas schwierig zu hörenden Belcanto-Komponisten“ betrachtet, wichtig natürlich, als Steinbruch für Verdi und die Nachfolger, einschließlich Wagner. Und die Huguenots waren mir wegen Richard Leech so vertraut (Berlin und Montpellier). Ich sah Meyerbeer nicht als intellektuellen, hochpolitischen Neuerer. Spätestens der Prophète zeigte mir dann, wie sehr Meyerbeer seine Zeit und deren Strömungen, die politische Umwälzungen in seinen Opern behandelt, konservativ zwar (die Revolution muss scheitern, weil sie aus dem Ruder läuft, aber notwendig ist sie gewiss), aber einsichtig. Die Spannungen und Diskriminierungen religiöser Gruppen gegeneinander, die Verfolgung Andersdenkender, die Ausbeutung der Kolonien, der Tanz auf dem gesellschaftlichen Vulkan, die Fatalität von scheinbar sicheren Fluchtpunkten – all dies ging mir im Laufe der Beschäftigung als Resultat der drei bislang gezeigten Hauptwerke auf. Und dafür meine Verbeugung vor der DOB. Eine große Leistung und ein lobenswerter Kraftakt.
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Dennoch – ohne den alten und immer noch fabelhaften Prophète-Mitschnitt aus Rom 1970 möchte ich auch nicht sein, alte Fassung hin oder her. Nicolai Gedda ist auch nach Osborn, Heller/Karlsruhe und Sledge/Berlin unerreicht: höhensicherst, lyrisch, zerrissen und absolut – für mich – der aufregendste Jean weit und breit, pardon Messieurs. Die junge Marilyn Horne sucht als Fidés immer noch ihresgleichen, selbst wenn etwa Ewa Wollack in Karlsruhe und Ronnita Miller in Berlin sich in meinem Musikerleben fabelhaft gegen sie behaupteten. Und ich liebe Margherita Rinaldi als Berthe! In Stereo (eher Stereo-Arkadia als Myto/Discogs). Aber die neue LSO-Aufnahme stellt manches in Perspektive, muss ich sagen. Und überzeugt rundherum.
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Erstaunlicher Weise hatte es vierzig Jahre gedauert, bis nach Rom und der CBS eine zweite (Fast)-Studio-Aufnahme von Meyerbeers Oper Le Prophète erschien. Die gruselige CBS-Einspielung mit dem indiskutablen James McCracken und der nicht mehr so durchschlagenden Marilyn Horne stammt von 1977 (die Scotto war ein Irrtum) und verwendet natürlich die alte Brandus-Fassung. Denn erst 2007 war die neue, ultimative Ricordi-Bärenreiter-Ausgabe offiziell erschienen, der weder Toulouse 2017 noch Berlin 2017 (trotz der Beteuerungen) wirklich gefolgt waren, Münster 2004 aber ja. Karlsruhe 2015 war Kratzer-fassungsmäßig außer Konkurrenz. Die bei Oehms vorliegende Aufnahme aus Essen 2017 bot nun diese (mit ganz kleinen Aufführungs-bedingten Strichen/ 3 CDs, OC 971).
„Trotz Beteuerungen“ verwendete die Deutsche Oper, deren Aufführungen mir so sehr im Ohr sind (namentlich die letzte im Januar 2028 mit anderer und tränen-bewegender Besetzung Sledge, Miller und Haslett, dankenswerter Weise war die Bühnen-Maschinerie ausgefallen), eine „revidierte Fassung der historisch-kritischen Ausgabe von 2014“, und auf den Ankündigungs-Plakaten stand so etwas wie „nach der gängigen Aufführungspraxis“ (pardon, ich find den genauen Wortlaut nicht mehr). Das hieß etwa – im Gegensatz zur Neuaufnahme aus Essen – ohne die vom Saxophon(!!!) begleitete Todesszene der Berthe im letzten Akt und ohne manches andere. Da war man eben doch halbherzig – denn allein diese paar Minuten mit diesem wunderbaren, und erstmalig in einer Oper verwendeten, Instrument, das nur wenige Jahre vor der Premiere des Prophéte von Adolphe Sax in Paris entwickelt wurde (1846), war die Anschaffung der Oehms-Ausgabe lohnend. Was war doch Meyerbeer für ein moderner, an Neuerungen interessierter Mann. Wie man ja auch von den Erfindungen und Bühnenbedingungen für seine Opern weiß.
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Live gab´s den Prophète erstaunlich oft. In meiner kleinen, unvollständigen Sammlung finde ich natürlich die (optisch damals wirklich grausliche) Wiener Aufführung mit einer die Partie verkennenden Agnes Baltsa neben einem Plácido Domingo in zerquältem Allgemein-Modus (Wien 1988); Stockholm gab das Werk 1999 mit einem bemerkenswerten Jean-Pierre Furlan neben Ingrid Tobiasson unter Gunnar Stearn. 1977 dirigierten Richard Lewis und 1979 Charles Mackerras die Oper mit Horne, Scotto/Shane und McCracken an der Met. 2004 gab´s den ersten „modernen“ Prophéte nach der neuen Meyerbeer-Edition in Münster. 2007 machte Essen ein Symposium mit dem kompletten 5. Akt nach der neuen Edition und einigen Schmankerln konzertant dazu, sehr verdienstvoll (David de Villiers/Loukianetz, Scalchi, Bruns). Braunschweig schaffte eine stark gekürzte Version 2014. Dann kam Karlsruhe 2015 mit Ewa Wollack und Marc Heller in der diskutablen, stark gekürzten Kratzer-Produktion, danach Toulouse 2017 mit Osborn und Kate Aldrich (blass!), Essen 2017 (Osborn) und Berlin 2017/18 (Kunde + Margaine sowie Sledge + Miller, sensationell); nachdem am selben Haus das Werk 1966 in Deutsch wahre Buhorkane ausgelöst hatte: Das Ehepaar Warfield-McCracken bestritt neben Annabelle Bernard den Abend (ich erinnere mich an den Skandal). Auf youtube gibt´s einen angeblich absolut ungekürzten, zusammengebauten Prophète, aber da hab´ ich aufgegeben. Ganz sicher habe ich einige Dokumente nicht erwähnt. Man möge mir verzeihen. Geerd Heinsen
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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier.