Genua liegt in Litauen

 

Er liebe vor allem die Konzilszene, in der Simone den dramatischen Höhepunkt der Oper dominiere, schreibt Dmitri Hvorostovsky in der englischsprachigen Einführung (dazu ital./ engl. Libretto) eines neuen Simon Boccanegra bei Delos (DE 3457). Welcher Bariton tut das nicht? Doch gerade in diesem zentralen Moment im zweiten Akt, „Plebe!, Patrizi! Popolo!“, zeigt sich, dass Hvorostovskys edler Bariton nicht ganz über die machtvolle Fülle und deklamatorische Kraft verfügt, die der Doge von Genua hier benötigt, um den gespaltenen Adel, die Kaufleute und das Volk zu einen. Ansonsten ist sein Simone das Ereignis einer sorgfältig und bewusst geführten, nun schon gut zwei Jahrzehnte währenden Karriere, einer klugen Beschränkung auf eine Handvoll Partien, wodurch sein kernig nobler, dabei samtweicher Bariton und die erlesene Atemkontrolle nichts von ihrem kostbaren Firnis eingebüsst haben. Hvorostovskys Simone, den er erstmals 2011 an der Metropolitan Opera gesungen hatte, ist ein vorsichtig abgetöntes Porträt, ist immer sensibel gestaltet, nie auftrumpfend, bereits im Vorspiel eher in die leisen Töne verliebt, dabei mit bewundernswerten Tonbögen („Figlia! A tal nome io palpito“) und unaufdringlichen Klanggesten im dritten Akt. Seine Partnerin aus New York, Barbara Frittoli, ist auch bei dieser im August 2013 im litauischen Kaunas entstandenen Aufnahme dabei. Frittolis strammer Sopran hat nicht die satte Rundheit, die in „Come in quest’ora bruna“ schön wäre, doch sie ist eine kluge und bewusste Gestalterin, hat sich über die Jahre ein Fach erobert, das man ihr nicht zugetraut hätte, die Stimme ist voller geworden, in der Höhe etwas scharf und ein wenig unruhig, doch sie versucht sich an den Trillern, ist im Terzett am Ende des zweiten Aktes berührend, phrasiert elegant und singt durchgehend mit passione. Ildar Abdrazakovs Fiesco ist kein wirklicher basso profondo, aber er singt mit festem, sicherem und stetem Ton, seine Rezitative besitzen Gewicht, und sein Fiesco ist durch und durch ein Genueser Edelmann, Stefano Seccos Gabriele Adorno wirkt ein bisschen wie der kleine Bruder der Amelia, was an Frittolis reifer Erfahrung wie Seccos hellem und gewöhnlichem Tenor  liegen mag. Die litauischen Kräften sind ausgezeichnet und man fragt sich, ob Kostas Smoriginas‚ erzen dunkler, musikalisch ausdruckstarker Schurken-Bariton (Pietro) sich nicht besser für den Paolo geeignet hätte als Marco Carias zwar schöner, doch etwas leichtgewichtiger Bariton. Constantine Orbelian dirigiert die Aufnahme wie eine gute Theateraufführung, was auch an den ausgetüftelten szenischen Effekten liegt, etwa wenn Simon im Prolog in den Palast Fiescos geht oder Gabriele seiner Geliebten hinter der Bühne die ersten Liebesworte zuruft sowie in zahlreichen Chorpassagen. Das Kaunas City Symphony Orchestra und der Kaunas State Choir warten mit überraschend zupackenden Leistungen auf. Orbelian leuchtet die instrumentalen Details gut aus, entflammt die richtigen Farbe und Atmosphäre, lässt seine Musiker in den tableaux großformatig agieren und begleitet die Sänger sicher, im Konzil vermeidet er ebenso Pathos wie in der Begegnung Amelia mit dem Dogen Sentimentalität, es fehlt ein wenig der bezwingende Bogen, um diese Aufnahme zu einer der großen Simon Boccanegra– Interpretationen werden zu lassen.  Rolf Fath