Generationswechsel

 


Rameaus dritte Oper Castor et Pollux existiert wie auch Dardanus (1739, 1744), Platée (1745, 1749) und Zoroastre (1749, 1756) in zwei Versionen. Doch es gibt eine Besonderheit: Während zwischen den verschiedenen Versionen sonst nur wenige Jahre liegen, sind es in diesem Fall 17. Rameau überarbeitete die wenig erfolgreiche Fassung von 1737 (fünf Akte mit Prolog) im Vergleich zur späteren von 1754 (fünf Akte) umfassend: Der nicht im Zusammenhang mit der Haupthandlung stehende Prolog wurde gestrichen, den ersten Akt komponierte er neu, in den übrigen vier Akten verarbeitete er die Musik der fünf Akte von 1737, der erste und zweite von 1737 entsprechen  überwiegend dem zweiten und dritten von 1756, die Akte 3 und 4 von 1737 kombinierte er zu einem neuen vierten Akt, den fünften Akt unterzog er ebenfalls einen Revision und komponierte neue Musik. Auch in der Handlung änderte sich einiges, Arien und Rezitative wurden gestrichen und neu geschrieben. Die Zweitfassung reüssierte beim Publikum. Der inzwischen 71 Jahre alte Rameau bewies dabei, wie er im Alter auf der Höhe seiner Kunstfertigkeit geblieben war. Durch viele kurze Nummern von nur wenigen Minuten erlebt man eine abwechslungsreiche Oper, die bekannte Klagearie der Télaïre „Tristes apprêts, pâles flambeaux“ ist mit fünf Minuten Länge eine Ausnahme. Harnoncourt und Christie spielten die frühe Version auf Tonträger ein,  Kevin Mallon (Naxos) die spätere.  Hervé Niquet, Christophe Rousset und Emmanuelle Haïm haben sich bei Aufführungen ebenfalls für die Zweitversion entschieden. Aufgrund einer kürzlich entdeckten neuen Handschrift war es möglich, die Instrumentierung in der Zweitfassung noch detaillierter wieder herzustellen und als Grundlage für die vorliegende Neueinspielung zu verwenden. Worin diese Detaillierungen bestehen, bleibt das Beiheft schuldig.

Jean-Philippe Rameau/OBA

Jean-Philippe Rameau/OBA

Der junge Dirigent Raphaël Pichon (*1984) ist aktuell ein Hoffnungsträger der französischen Barock-Szene in dritter Generation nach Jean-Claude Malgoire (*1940) und William Christie (*1944) sowie Hervé Niquet (*1957), Christophe Rousset (*1961), Hugo Reyne (*1961), Marc Minkowski (*1962) und Emmanuelle Haïm (*1962). Sein Ensemble Pygmalion (Orchester und Chor) gründete Pichon 2006, zusammen spielten sie bereits Hippolyte et Aricie (2012) und Dardanus (2013), Castor et Pollux folgte im Gedenkjahr 2014 zur 250 Wiederkehr von Rameaus Tod. Pichons Klang bei dieser Aufnahme überrascht. Er verzichtet auf die oft üblichen historisch informierten Zuspitzungen: Es gibt keine schroffen Akzentuierungen, keine Knalleffekte, kein harsches Aufspielen. Pichons Dirigat ist nach heutigem Maßstab zurückhaltend, es ergibt sich ein flüssiger,  eloquenter, ausgewogener und gelegentlich etwas eintöniger Höreindruck, bei denen die Streichinstrumente im Vordergrund sind. Wo andere Barockexperten auf Effekte zielen würden, bleibt Pichon maßvoll. Bspw. in der 6. Szene des 1. Akts „Entracte – Bruit de guerre“: die Bläser sind im Hintergrund und brechen nicht hervor oder in der 3. Szene des 5. Akts „Tonnerre“: der Donner würde bei anderen Dirigenten durchaus krachender tönen. Vor allem bei den Zwischenspielen, den Airs, Menuetten und Gavotten, können die Musiker filigran musizieren und ihren speziellen Klang modellieren. Es bleibt Geschmacksache, ob der Dirigent mehr instrumentale Details betonen sollte. Pichons Anliegen, die Raffinessen der Partitur zu betonen, wird allerdings nicht jedem unmittelbar gelungen erscheinen.

Bei den Sängern gibt es Licht und Schatten, die der Rahmenbedingungen der Live-Aufnahme geschuldet sein können. Positiv auffallen können vor allem Emmanuelle de Negri, die als Télaïre ausdrucksstark und bewegend singt, Clémentine Margaine, die als Phébé leidenschaftlich und eifersüchtig ist, und Sabine Devieilhe, die drei kleine Rollen vorbildlich präsentiert. Der Tenor Colin Ainsworth als Castor hatte am Aufnahmetag nicht seinen besten Tag erwischt: Er klingt gelegentlich angestrengt und verengt. (Ainsworth sang übrigens auch schon der Naxos Einspielung unter Kevin Mallon den Castor). Sein Bühnenbruder Bariton Florian Sempey ist als feierlich-würdevoller Pollux besser und hat doch auch Eintrübungen. Die kleineren Rollen sind adäquat besetzt, ergänzt von einem engagierten Chor. Es bleibt am Ende ein guter, aber ambivalenter Höreindruck. Der Generationswechsel bei den französischen Barock-Interpreten überzeugt in dieser Aufnahme noch nicht restlos. (Castor: Colin Ainsworth; Pollux: Florian Sempey, Télaïre: Emmanuelle de Negri; Phébé: Clémentine Margaine; Jupiter: Christian Immler; Cléone, Une Ombre heureuse, Une Suivante d’Hébé: Sabine Devieilhe; Un Athlète, Mercure, un Spartiate: Philippe Talbot; Le Grand Prêtre de Jupiter: Virgile Ancely;  Choeur et orchestre de l’Ensemble Pygmalion – Dirigent: Raphaël Pichon; Koproduktion Harmonia Mundi und Ensemble Pygmalion, Live-Aufnahme des Festival Radio France et Montpellier-Languedoc-Roussillon vom Juli 2014. HMC 902212.13Marcus Budwitius