Version René Jacobs

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Noch ein Freischütz? Es gibt doch schon so viele. In diversen Diskographien werden mehr als fünfzig Gesamtaufnahmen und Querschnitte nachgewiesen. Gelangt eine neue Produktion auf den Markt, hat sie sich gegen eine starke Konkurrenz zu behaupten. Oder sie muss etwas bieten, was es noch nicht gab. René Jacobs hat bei harmonia mundi so einen Versuch unternommen (HMM 907700.01). Doch das Cover erweckt den Eindruck, als handele es sich um eine traditionelle Einspielung. Erst im Kleingedruckten auf der Rückseite der Box wird auf die „Adaption of the dialogues“ durch den Dirigenten verwiesen. Er kehre „zu den Urquellen“ zurück und präsentiere eine noch nie gehörte Deutung der ersten deutschen Oper der Romantik. Der vom Dichter Friedrich Kind ursprünglich vorgesehene Prolog bekomme wieder seinen Platz in der Oper und der Eremit sein symbolisches Gewicht. „Eine spannende Neuentdeckung“, wird versprochen.

Ganz neu ist dieser Ansatz allerdings nicht, was selbst Jacobs im Booklet einräumt. Bereits 1980 hatte der Regisseur Achim Freyer in Stuttgart seine Inszenierung, die ein Jahr später ins ZDF kam und auch auf DVD erschien, mit einem Ausschnitt aus dem Prolog eröffnet. Ähnliche ging Johannes Reitmeier 2020 im Tiroler Landestheater vor, dessen ästhetisch ansprechende Produktion als Stream zu erleben war. In beiden Fällen wurden die Texte gesprochen und der Ouvertüre vorangestellt. Schließlich wurden sie von Weber ja auch nicht vertont. Warum eigentlich nicht?

Das Cover der Neuerscheinung lässt nicht auf eine besondere Fassung der Oper schließen.

Auf Anraten seiner späteren Frau Caroline, die eine sehr erfahrende und mit viel Theaterinstinkt ausgestattete Sängerin war, verzichtete Weber auf den Prolog, der in die Klause des Gottesmanns führt. Er ist in großer Sorge, sieht „den Feind im Dunkeln lauern“, wie er seine „Riesenfaust nach einem unbefleckten Lamm“ streckte, das niemand anderes als Agathe ist. Und auch „nach ihrem Bräutigam lauscht‘ er mit gier’gen wilden Blicken, als wollt‘ er seinen Fuß umstricken“. In – wie es in der Szenenanweisung heißt – „brünstiger Andacht“ – ruft er aus: „Herr! Vernimm des Greises Flehen! Lass den Frevel nicht geschehen!“ Da tritt Agathe ein, bringt Brot, Milch, frische Früchte und erfährt, dass der Eremit, „die eigentliche Gefahr“, die ihr und ihrem Verlobten Max drohe, zwar nicht kenne, sein Herz aber beklommen fühle, wenn er sie ansehe. Deshalb wolle er sie „heute nicht ohne Gegengabe zu entlassen“. Er schenkt ihr einen geweihten Rosenstock, „dessen erstes Reislein meinem Vorgänger ein Pilger aus Palästina mitbrachte“. Dem Rosenwasser, das daraus zu gewinnen sei, würden „wunderbare Schutz und Heilkräfte“ zugeschrieben. In einem gemeinsamen Duett preisen sie das Wunder der Gabe. Sie würde Agathe das Leben retten.

„Weg mit diesen Scenen, mitten hinein ins Volksleben … „ So Carolines Worte in dem Brief an Weber, nachdem sie das Libretto in seiner ersten Fassung gelesen hatte. Für mich ist das sehr nachvollziehbar, zumal der Prolog ganze fünf Druckseiten füllt. Was in gehobener Sprache abgehandelt wird, verlangt auf dem Theater nach Raum und Zeit. Andererseits – und das spricht für den Prolog – bleiben die Erwähnung des Besuches beim Eremiten und der Hinweis auf die geweihten Rosen während des zweiten Aufzugs im Forsthaus rätselhaft und erweisen sich selbst bei näherem Hinsehen als dramaturgische Schwäche. Nicht von ungefähr legte also der Textdichter Kind größten Wert darauf. Nur widerwillig akzeptierte er den Strich. In den von ihm veranlassten Drucken des Librettos ließ er den Prolog stets vorangestellt. „Ohne ihn“, wird Kind von René Jacob im Booklet zitiert, „ist mein Oper eine Statue, welcher der Kopf fehlt.“ Jacobs setzt ihn ihr wieder auf. Schon im 19. Jahrhundert gab es Versuche, die Szene nachträglich mit Musik aus Freischütz-Themen zu versehen. Die Fachliteratur nennt den sächsischen Musikdirektor Oskar Möricke, den auch Jacobs erwähnt. Im Vorwort einer vollständigen Textausgabe bei Reclam (Nr. 2530, ohne Jahresangabe) geht der Schriftsteller und Theaterfachmann Carl Friedrich Wittmann (1839-1903) näher auf Möricke ein und wartet mit einen faksimilierten Theaterzettel aus Lübeck von 1893 auf. Danach wurde das Vorspiel Die Rosen des Eremiten vor der Ouvertüre gegeben. Wittmann zitiert die „Lübecker Anzeigen“, dass es „mit Recht unthulich“ erschienen wäre, die Prolog-Szenen „unmittelbar nach der jubelnd abschließenden Ouvertüre einzulegen, ohne die nachfolgende Volksszene dadurch in ihrer Wirkung zu beeinträchtigen“. Wie es geklungen und auf der Bühne gewirkt hat, wird nicht näher berichtet. Beim Publikum dürfte sich die Begeisterung in Grenzen gehalten haben. Das Lübecker Blatt spricht von einem „achtungsvollen Interesse“, gelangt aber gleichfalls zu dem Schluss, dass die Ergänzung dem Verständnis „für das spätere, ziemlich unmotivierte Auftreten des Eremiten und für Agathens Hindeutung auf die von ihm zur Erinnerung erhaltenen Rosen“ wesentlich fördere.

Der Dirigent René Jaobs versteht Webers Freischütz als Singspiel nach Art der französischen Opéra comique. Foto: hamonia mundi

In der Praxis geht Jacobs wie folgt vor. Er nimmt, „was Weber komponierte, um es für die von ihm nicht komponierten Texte kreativ (aber unaufdringlich) wiederzuverwenden“. Im Einzelnen wurde beispielweise für die Eremitenarie „Allerbarmen! Herr dort oben“ der Adagio-Teil (die ersten acht und die letzten zwölf Takte) der Ouvertüre und das Hauptthema seines Auftritts im Finale der Oper („Wer legt auf ihn so strengen Bann?“) wiederaufbereitet. Das bietet sich zwar an, wirkt aber stellenweise wie ein Aufguss und nicht wie eine inhaltliche Deutung der nun an den Beginn gesetzten Ouvertüre. Dem originalen Text der Prologs traut Jacobs allerdings nicht. Passagen wurden verschoben oder gestrichen. Mehr spielerisch als sinnstiften wirken Zitate aus dem späteren Handlungsverlauf, die etwas verändert dem Eremit in den Mund gelegt werden: „Wo Agathe nur bleiben mag?“ Die würde sich später im Forsthaus fragen: „Wo nur Max bleibt?“ Noch gravierender ist, den Eremiten betont umgangssprachlich bereits von vornherein sagen zu lassen, dass ihm der alte Brauch des bevorstehenden Probeschusses „überhaupt nicht gefällt“. Bei Kind kommt das so nicht vor. Nun aber wird vorweggenommen, was sich als moralische Lehre aus einem Männlichkeitsritual, das aus dem Ruder läuft, ergeben wird. Denn erst die Beinahe-Katastrophe ruft am Ende den Eremiten erneut auf den Plan und veranlasst ihn zu seinem Urteil: „Drum finde nie der Probeschuss mehr statt.“

Für den Textdichter der Oper Friedrich Kind war der Freischütz ohne Prolog wie eine Satue, der der Kopf fehlt. Foto: Wikipedia

Die spektakulärste Neuerung betrifft Kuno, den Vater Agathes. In der ersten Fassung des Librettos hatte der nämlich statt der Erzählung über die Herkunft des Probeschusses eine Arie mit Chor selbigen Inhalts, die ebenfalls nicht komponiert wurde. Jacobs gibt sie dem Erbförster zurück. Dem überlieferten Text – beginnend mit „Herr Ottokar jagte durch Heid‘ und durch Wald“ wird Musik von Franz Schubert unterlegt – und zwar das Trinklied aus dem Singspiel Des Teufels Lustschloss in der zweiten Fassung von 1814 nach August von Kotzebue, in dem es auch nicht mit rechten Dingen zugeht. Stilistisch will das nicht passen, und die Verwunderung wäre groß, würde die CD eingelegt, ohne zuvor das umfangreiche Booklet studiert zu haben. Die Arie bleibt, was sie ist – eine Einlage. Der für den Kuno mit seinen zweiunddreißig Jahren etwas zu jugendlich wirkende Bariton Matthias Winckhler singt sie mit Bravour. Er fällt auch durch seinen geschliffenen Vortrag der Sprechtexte auf.

Nicht genug der inhaltlichen Zutaten. Max, in seiner Not, vor Agathe und der Gesellschaft bestehen zu müssen, ist ein ideales Opfer, was Kaspar und der allgegenwärtige Samiel auch in der neuen Fassung schnell erkennen. Bei Jacobs gerät er allmählicher und nicht so abrupt in die Fänge des Bösen. Seinen Beteuerungen, nicht an Zauberei zu glauben, kontert Kaspar mit Anleihen aus dem Gespensterbuch. Es gilt als wichtigste Freischütz-Quelle. Die Anthologie von Gruselgeschichten, die August Apel und Friedrich Laun zusammentrugen, erschienen von 1810 bis 1818 in mehreren Bänden. Apel, den Kind von der Thomasschule in Leipzig her kannte, steuerte die Freischütz-Sage bei. Anders als die Oper endet sie tragisch. Wilhelm, so der Name des Helden, trifft seine Braut Käthchen beim Probeschuss tödlich und beschließt seine Tage im Irrenhaus. Freikugeln werden nicht in der Wolfsschlucht gegossen. Sie sind freitags um Mitternacht im Zauberkreis auf einem Kreuzweg zu gewinnen. Noch bevor Max in seiner Not einwilligt, zur Geisterstunde in die verrufene Wolfsschlucht zu kommen, macht ihn Kaspar mit eben dieser Geschichte vom Kreuzweg neugierig und gefügig zugleich.

Das „Gespensterbuch“ von Johann Apel und Friedrich Laun gilt als wichtigste Quelle der Oper von Weber. Das Tilelblatt entstammt der Freischütz-Sage.

Während der wagnererprobte russische Bass Dimitry Ivashchenko als Kaspar stimmlich etwas derb, in der Höhe knapp und mit deutlichem Akzent agiert – was auch gewollt sein dürfte –, erfüllt Maximilian Schmitt traditionelle Erwartungen an Max nicht. Er kommt von den Regensburger Domspatzen. Bevor er 2008 nach Mannheim engagiert wurde, wo er David, Lenski und diverse Mozart-Partien sang, hatte er erste Erfahrungen im Opernstudio München gesammelt. In seiner Entführung aus dem Serail setzte ihn Jacobs als Belmonte ein. Schmitt ist also mit den lyrischen Tönen vertraut und kann dadurch den zartbesaiteten Max umso überzeugender darstellen. In den dramatischen Ausbrüchen sind ihm Grenzen gesetzt. Einem Schuss Italianità in der Stimme, versieht er in seiner großen Arie die Erinnerung an „Agathes Liebesblick“ sogar mit Koloraturen, was – wie vieles in dieser Produktion – irritiert. Nicht weniger stört es, dass ihm der mit viel mehr Text ausgestattete Samiel (eindrucksvoll Max Urlacher) mehrfach mit düsteren Kommentaren dazwischenredet. Wenn gegen Ende des ersten Aktes Hinweise auf die Freikugeln aufkommen, bringt Kaspar scheinbar nebenbei den schwedischen König Gustav Adolf ins Spiel. Dieser „elende Protestant“, wie ihm Samiel aus dem Hintergrund beschimpft, ist 1632 im Dreißigjährigen Krieg bei der Schlacht von Lützen gefallen. Indem er Schweden zu einer Führungsrolle verhalf und in den Krieg eingriff, verhinderte er einen Sieg des kaiserlich-katholischen Lagers der Habsburger und sicherte damit auch dem deutschen Protestantismus die Zukunft. Kind und Weber lassen den Freischütz „kurz nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges“ spielen. Jacobs scheint es wichtig, diesen historischen Verweis auch in religiöse Zusammenhänge zu stellen.

„Einst träumte meiner sel’gen Base“: Ännchens Arie wurde erst kurz vor der Uraufführung für die Sängerin Johanna Eunike in die Oper eingefügt. Sie war die Frau des Malers Franz Krueger. Beide sind auf dem  Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin begraben. Foto: Winter

Auch die Damen müssten umgelernt haben, sollten sie bereits in einer hergebrachten Freischütz-Aufführung aufgetreten sein. Ännchen bekommt sogar einen Vater, der gesagt habe, dass man die Angst verspotten müsse, damit sie fliehe. Beider Sprechtexte sind pointierter und mit modernen Ausdrucksformen angereichert. Die Ungarin Polina Pasztircsák (Agathe) und die Ukrainerin Kateryna Kasper (Ännchen) gleichen erst bei ihrer Arien sprachliche Defizite aus. Sie unterscheiden sich nach Stimme und Charakter deutlich. Ännchen gibt sich mit brustigen Tönen flott und unerschrocken. Agathe ist zurückhaltend und ängstlich. Beide Arien gelingen ihr technisch sehr gut, lassen aber jene Magie vermissen, für die Grümmer, Schwarzkopf oder Janowitz einst die Maßstäbe setzten. Was wirklich aufhorchen lässt, ist feinsinnige Begleitung durch René Jacobs. Die unterschiedlichsten Stimmungen finden sich phantasievoll ausgedrückt. Und man fragt sich nicht nur einmal, mit welchen Instrumenten sie zustande kommen. Für den Laien bleiben sie das Geheimnis des Spezialisten für Alte Musik, der für den Freischütz mit den fünfzig Mitglieder des Freiburger Kammerorchesters und sechsunddreißig Damen und Herren der Zürcher Sing-Akademie auskommt – ohne, dass man je Klangfülle vermissen würde. Der Abstieg in der Wolfsschlucht wird von unheimlichem Stimmengewirr, der fauchenden Windmaschine und dem Knistern von Feuer begleitet. Im deutlich auch hier erweiterten und veränderten Sprechtext trifft abermals der Gespensterbuch-Apel auf den Librettisten Kind – und umgekehrt.

In Lübek wurde 1893 der Prolog mit Musik aus dem „Freischütz“ unterlegt und der Oper vorangestellt.

Ich bin Jacobs dankbar, dass er in einer Fußnote des Booklets auf die Besonderheit der Ännchen-Arie „Einst träumte meiner sel’gen Base“ in der zweiten Forsthausszene eingeht. Sie wurde erst kurz vor der Uraufführung am 18. Juni 1821 in Berlin eingefügt. Die berühmte Sängerin Johanna Eunike hatte auf das Bravourstück bestanden, weil sie fürchtete, gegenüber Agathe zu kurz zu kommen. Nach den Worten von Jacobs wird damit die vorangehende Wolfsschluchtszene parodiert. „Ännchens moderne, kritische Haltung gegenüber dem Aberglauben aller anderen Figuren der Oper ist erfrischend.“ So darf denn Kateryna Kasper mit der Ausschmückung der nächtlichen Heimsuchung der verblichenen Base stimmlich sehr frei – für meine Begriffe etwas zu frei – umgehen. Übrigens hatte der Dirigent Erich Kleiber die Arie in seiner Aufnahme von 1955 für den WDR, die bei Capriccio auf CD erschien, gestrichen. Das Finale bleibt weitgehend ungeschoren. Jacob legt es sehr leicht, wunderbar durchsichtig, fast schwungvoll an. Und der Eremit (Christian Immler) erscheint auch stimmlich fern alles Salbungsvollen als ein Mann des Volkes.

Für Jacobs ist der Freischütz ist ein Singspiel nach Art der französischen Opéra comique. Dies bedeute, dass die Sänger „mehrere Eisen im Feuer haben“, führt er im Booklet aus. Sie müssten ihre Textsicherheit in mehrerer Hinsicht unter Beweis stellen: singend (in den Arien und Ensembles), deklamierend (in den Rezitativen) und sprechend (in den Dialogen)“. Für unverzichtbar hält er „höchste Gesangskultur, aber auch (im Kontrast dazu) Mut zum Unschönen, wenn die dramatische Situation dies verlangt. Beim Singen wurden zur Zeit Webers – unter bestimmten Regeln – Änderungen am Notentext geduldet; beim Dialogsprechen hingegen waren Abweichungen vom gedruckten Text selbstverständlich“. Stilbrüche und Anachronismen, die aus dem Improvisieren entstanden, seien nicht als störend empfunden worden. „Diese Freiheit wollen wir in vollem Maße auskosten.“ Webers Freischütz auf Tonträger könne nun einmal kein Schauspiel sein, er müsse als Hörspiel behandelt werden – komplett mit Geräuschen, Klangeffekten und allem, was dazugehöre. Auf der Basis von Kinds Urlibretto (1817) und seiner Ausgabe letzter Hand (1843) seien die Dialoge zu einem Hörspiel-Szenario unter Hinzuziehung von Apels Gespensterbuch (1810) umgearbeitet worden (Foto oben/Wikipedia). Rüdiger Winter