Mehrere Jahrzehnte Rossini-Renaissance haben den Bewunderern des Komponisten aus Pesaro derart viele Neuentdeckungen und CD-Premieren beschert, dass man kaum glauben kann, dass ein Label noch ein gewichtiges Werk aufstöbern kann, das nie aufgenommen wurde. Das ist aber der kleinen, aber feinen Firma Concerto Classics aus Italien tatsächlich gelungen. Die hier eingespielte, über 45 Minuten lange Kantate La riconoscenza („Die Dankbarkeit“) ist zwar ab 1973 mehrmals aufgeführt worden (zuletzt in Pesaro 2019), aber eine Plattenproduktion folgte dem Live-Erlebnis nie. Sie erscheint jetzt in einer Studio-Aufnahme aus Lugano, wo sie schon 2002 zur Aufführung gekommen war.
Rossini schuf die Kantate unter besonderen Umständen. Er bekam um 1820 den Auftrag für eine Kantate, um die Hochzeit des Sohnes von Maria Luisa, der kurzfristigen Königin von Etrurien (1801-1803) von Napoleons Gnaden und nunmehrigen Herzogin von Lucca, musikalisch auszuschmücken. Zwar kam der vielbeschäftigte Rossini nicht dazu, aber er schrieb eine Kantate anlässlich des Besuchs der Herzogin in Neapel im Jahr 1821. Ironie des Schicksals: bei der Uraufführung im privaten Rahmen war Maria Luisa nicht zugegen (sie hörte sie erst 1822). Der Öffentlichkeit wurde die Kantate am 27. Dezember 1821 vorgestellt, kurz bevor Rossini Neapel in Richtung Wien verließ. Das nicht ganz taufrische Abschiedsgeschenk kam gut an, und Rossini verwendete Teile der Komposition für andere Anlässe (aus dem darauf gründenden Vero omaggio von 1822 findet sich eine Cavatina für Sopran auf der CD). Der Komponist war bekanntlich nicht zimperlich, was die Libretti angeht, weil er sich das wie alle Kollegen im damaligen Wahnsinnsbetrieb, der Opernwelt, gar nicht leisten konnte. Für die Riconoscenza hatte er besonderes Pech. Der Verfasser des Textes war Don Giulio Genoino (1773-1856), ein Geistlicher (bis 1848) und Vielschreiber, der die damalige literarische Welt mit Gedichten, Theaterstücken, Libretti (neben der Kantate für Rossini kennt die Fachwelt noch die Farsa La lettera anonima für Donizetti im Jahr 1822) und Schriften bunten Inhalts überschwemmte. Ein neapolitanisches Schlitzohr war er auch: er bekleidete die gut dotierte Stelle eines Bibliothekars im Innenministerium des Königreichs Neapel, aber man munkelte, dass die Bibliothek gar nicht existierte. Im Vorwort seiner Opere liriche („Gedichte“, Bd. 2, Neapel 1825) spricht Genoino davon, dass seine poetische Ader zeitweise „so fruchtlos und stumpf war, dass kein Mittel war, eine Idee zusammen zu basteln“.
Das muss die Gemütslage gewesen sein, in der er sich befand, als er den Text der Cantata pastorale für Rossini schrieb. Man reibt sich die Augen: Genoino lässt Hirten mit gräzisierenden Namen im bukolischen Ambiente auftreten, um wortreich die Lobeshymne der Widmungsträgerin Maria Luisa anzustimmen. Der peinliche, auch sprachlich banale Text könnte von einem Metastasio-Nachahmer um 1780 stammen. Vierzig Jahre später ist der leere Wortschwall aus der Zeit gefallen. Das hinderte Rossini nicht daran, eine brillante, vergnügliche Partitur zu schreiben, die höchste vokale Ansprüche an die Interpreten stellt.
Dementsprechend braucht man dafür nicht nur stilsichere, sondern auch sehr virtuose Stimmen. Das Ensemble, das hier im Rahmen des von Markus Poschner auf mehrere CD angelegten Rossini Project zu hören ist, bemüht sich redlich, den Schwierigkeiten gerecht zu werden. Das gilt vor allem für die Tenor-Partie. Es ist die einzige Rolle, die Rossini für den berühmten Giovanni Battista Rubini (1795-1854) schrieb, den tenoralen Helden der romantischen Generation, der mit der Uraufführung der Puritani 1835 Operngeschichte schrieb. Rubini hatte mehrere Stücke Rossinis im Repertoire, aber es kam nie zu einer engen Zusammenarbeit, auch wenn die beiden noch bis in die 1850er Jahre Briefe austauschten (vgl. Reto Müllers Besprechung der Edition von Rubinis Korrespondenz in: La Gazzetta 29, 2019, S. 113-121). Um Rubinis Technik glänzen zu lassen, schrieb Rossini einige fiese, stratosphärisch hohe Passagen in die Kantate (Arie „Gratitudine, cara ai celesti“). Edgardo Rocha kommt hier rasch an seine Grenzen, zieht sich allerdings insgesamt ehrenvoll aus der Affäre. Der wendige, aber teilweise schneidige Sopran von Michela Antonucci ringt mehr oder weniger erfolgreich mit der Partie der Argene, während Laura Polverellis tremulierende Mezzo-Stimme das Ende einer würdigen Karriere ankündigt. Mirco Palazzi hat kaum etwas zu singen. Das wirkliche Ereignis ist indes Poschners Leietung. Man kann heutzutage wenige Dirigenten nennen, die das deutsche und das italienische Repertoire des 19. Jahrhunderts mit derartiger Souveränität und unfehlbarem Geschmack interpretieren können. Poschner hat Preise für seinen Brahms und seinen Strauss erhalten und sich auch schon als Beethoven-Dirigent hervorgetan (u.a. mit einer denkwürdigen Serie der Symphonien und Klavierkonzerte mit Francesco Piemontesi in Lugano). Man wird von einem solchen Künstler nicht unbedingt erwarten, dass er sich mit vergleichbarer Begeisterung dem gerade nördlich der Alpen immer noch unterschätzten Rossini widmet. Poschner tut das. Nicht nur die schmissig dirigierte, im Detail schön herausgearbeitete Kantate, sondern vor allem das Eröffnungsstück auf der CD lässt aufhorchen. Die Sinfonia (Ouvertüre mit Chor) von Ermione hat man selten mit solcher Wucht dargeboten gehört, und man darf hoffen, dass der Dirigent in Zukunft den Rossini serio erkunden wird. In der Zwischenzeit kann sich jeder Rossini-Liebhaber diese in ihrer Gesamtheit gelungenen und schön aufgemachten CD con riconoscenza zu Gemüte führen. Michele C. Ferrari
The Rossini Project, vol. 2: From Naples to Europe. La riconoscenza, Cantata pastorale; Ermione, Elisabetta, ‚Sinfonie; Ausschnitte aus Il vero omaggio und der Cantata a quattro voci con cori (1823): Michela Antonucci (Sopran), Laura Polverelli (Mezzosopran), Edgardo Rocha (Tenor), Mirco Palazzi (Bass), Coro della Radiotelevisione svizzera, Orchestra della Svizzera italiana, Markus Poschner, CD Concerto Classics 2118 (www.concertoclassics.it)