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Operalounge-Lesern wird nicht entgangen sein, dass wir besonders den Deutsch-Italiener Simon(e) Mayr lieben, der es von Ingolstadt nach Bergamo geschafft hat und dort in großen Ehren im örtlichen Dom begraben liegt. Nur wenigen deutschen Komponisten ist eine solche Karriere vergönnt gewesen. Johann Christian Bach zumindest wurde Kirchenmusikdirektor am Dom zu Mailand, bevor er in London sein Zentrum fand. Und Otto Nicolai hatte ebenso wie Giacomo Meyerbeer eine italienischen Phase (und ersterer erfuhr auch die Liebe dort). Dieses musikalische Cross-over von handfester deutscher Kompositionsbasis mit viel Kontrapunkt und italienischer Melodik zeitigte bei allen das Beste.
Nun also aufregende Nachricht für Mayr-Fans: Bei Naxos gibt es die Cherusker (I Cherusci) von Simon(e) Mayr in dem Mitschnitt aus Neuburg an der Donau vom September 2016 unter der Leitung von Franz Hauk/ 8660399-400.
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Während Napoleons Truppen durch Europa zogen, verfasste Simon(e) Mayr eine Oper, die im alten Germanien angesiedelt ist, um Christi Geburt herum, und die vor einem bewegten Hintergrund der Germanen-Römer-Kriege den Fokus auf das Schicksal des Sklavenmädchens Tusnelda legt, die von ihrem Stamm als heiliges Opfer ausersehen wurde. Das universelle Thema der Freiheit und des Patriotismus durchdringt diese bemerkenswerte Geschichte von Familienbanden, Eifersucht und verzweifelten Befreihungsversuchen, die später Komponisten wie Beethoven oder Verdi interessiert haben.
Diese nun auf CD als Mitschnitt eines Konzerts im bayerischen Neuburg 2017 festgehaltene moderne Erstaufführung verwendet zeitgenössische Instrumente, wie sie bei der römischen Premiere 1830 erklungen haben. Die operalounge.de-Lesern nur zu vertraute Musikwissenschaftlerin Iris Winkler weiss dazu im nachstehenden Text mehr.
Die Ausführenden unter Dirigent Franz Hauk sind bewährte Mayr-Interpreten. Der Simon Mayr Chor wurde 2003 gegründet und bewährt sich in Musik von der Renaissance bis in die Neuzeit. Das Concerto de Bassus (mit einer namentlichen Hommage an die Schirmherrin, die Baronin de Bassus, und natürlich dem fundamentalen Element der Barockmusik verpflichtet, dem Bass) ist ein junges Ensemble mit zeitgenössischen Instrumenten für Musik vom 17. bis zum 19. Jahrhundert – viele Mitglieder kommen von der Hochschule für Musik und Theater München.
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Und nun Iris Winkler zu Mayrs Oper I Cherusci bei Naxos:Das italienische Wort „Cherusci“ entspricht dem lateinischen und benennt einen alten germanischen Stamm. Die Cherusker, auch Herusker genannt, siedelten im Harz, zwischen Weser und Elbe. Caesar erwähnte den Volksstamm in seiner Schrift über den gallischen Krieg. Die Römer standen mit den Cheruskern im Krieg. Arminius, Hermann der Cherusker, und die Varusschlacht 9 n. Chr. gingen in Geschichte und Literatur ein. Heinrich von Kleist schrieb sein Drama Die Hermannsschlacht 1808 in Dresden. „Wehe, mein Vaterland, dir! Die Leier, zum Ruhm dir, zu schlagen, / Ist, getreu dir im Schoß, mir deinem Dichter, verwehrt.“
Das Motto des Dichters ließe sich durchaus als Bekenntnis deuten. Verstanden wurde dieses Historiendrama als ein politisch motiviertes und durch die Rezeption tradiertes Freiheitsdrama gegen die napoleonische Besatzung. Die brisanten politischen Verhältnisse standen einer Aufführung am Wiener Burgtheater 1809 entgegen. Plakative Lesarten setzten die Cherusker mit den Preußen, die Sueven mit den Österreichern und die zu besiegenden Römer schließlich mit den Franzosen gleich. Nach der Revolution von 1848 schien dann die Zeit für Kleists Hermannsschlacht, die erst in der von Ludwig Tieck 1821 besorgten Gesamtausgabe vollständig im Druck Verbreitung fand, gekommen zu sein. Aktuelle politische Botschaften, Patriotismus, Nationalbewusstsein spiegelten Regie und Inszenierung im 19. und im 20. Jahrhundert wesentlich zwischen den Weltkriegen.
„Ein Knabe sah den Mondenschein“, singt Hermanns Gattin Thusnelda bei Kleist (II/7). Mehr als den Namen hat die markomannische Königstocher und Cheruskerbraut Tusnelda in Mayrs Oper mit ihr allerdings nicht gemein. Der Suevenfürst Marbod, der bei Kleist erscheint, stieg historisch zum Markomannenführer auf, ist aber keineswegs mit dem Markomannenführer Treuta bei Mayr „verwandt“. „La Poesia e tutta nuova“, die Dichtung ist gänzlich neu, ist im Libretto zu Mayrs Oper zu lesen, die zum Karneval 1808 in Rom am Teatro di Torre Argentina zur Aufführung gelangte.
Durch das Jahr 1808, die Entstehungszeit des Dramas und die Aufführungszeit der Oper, während Napoleons Besatzungsmacht Europa „einigte“, ließe sich von Kleist zu Mayr eine Verbindung ziehen. Mayrs „neuer“ Operntext hatte allerdings noch eine Vorgeschichte: Denn Vermarktungsgründe einerseits, andererseits die Notwendigkeit, das „Monopol“ der für das Teatro La Fenice in Venedig komponierten Werke zu umgehen, dürften bei dieser Formulierung im Librettodruck mitgespielt haben. Bei dem von Mayr verwendeten Libretto für I Cherusci handelt es sich um eine Umarbeitung des Textes von Gaetano Rossi für Stefano Pavesi. Pavesis gleichnamige Oper ging ein Jahr zuvor zum Karneval in Venedig in Szene. Bereits Michele Calella hat auf den Zusammenhang beider Werke ausführlich hingewiesen.(…)
Ein erstes Indiz hinsichtlich Mayrs neuem Opernauftrag für das Teatro Argentina zum Karneval 1808 gibt der Theateragent Angiolo Bentivoglio in seinem Brief an Mayr (Bologna, 15. November 1806). Über seine Interpreten in Rom am Teatro Argentina wurde Mayr durch die Theaterleitung im Vorfeld informiert. Domenico Leofreddi teilte Mayr in Bergamo in seinem Brief vom 9. September 1807 aus Rom die Namen mit: „Madama Carlotta Hayser“: „Bella voce di Soprano perfetto, arte sublime di cantare [….]“ „il Tenore Tacchinardi Professore, di buoniss:[im]a voce, e soprattutto impegniato sempre a fare il suo dovere. La Verge anch’essa Soprano perfetto eseguirä la Parte di Primo Soprano.“ „II Basso e un tal Benincasa […]“
Leofreddi verwies in diesem Brief auch auf einen Dichter. ohne allerdings einen konkreten Namen zu nennen, der das Libretto für Mayr einzurichten hätte. Im laufenden Arbeitsprozess ist der venezianische Librettist Gaetano Rossi über Mayrs römischen Opernauftrag durchaus im Bilde und konkret an den Umarbeitungen beteiligt gewesen, was sein Brief an Mayr in Rom am 12. Dezember 1807 belegt. Rossi erwähnte darin zudem eine französische Tragödienvorlage. Naheliegend ist, dass Rossi von Jean Gregoire Bauvin die Tragédie Les Cherusques (1772/1773) gekannt hat. Unter dem Titel Os cheruscos wurden Mayrs I Cherusci zudem 1817 am Teatro de S. Carlos in Lissabon aufgeführt.
Mayrs I Cherusci ist in Gestalt der tradierten Opera seria eine brisante Zeitoper. Ohne Beachtung der kulturgeschichtlichen Hintergründe und politischen Umstände wird ihr Gehalt und ihre Botschaft verkannt. Sie spiegelt inhaltlich die zeitgenössische Ossian-Rezeption wider, die vor Napoleon nicht haltgemacht hat und den Kaiser der Franzosen und König von Italien gleichsam selbst mit ins Spiel bringt. Es geht um einen nationalen Barden, der den griechischen Sängermythos Orpheus überhöht (Wikipedia schreibt: Ossian ist ein angeblich altgälisches Epos aus der keltischen Mythologie. Diese „Gesänge des Ossian“ hat tatsächlich der Schotte James Macpherson (1736–1796) geschrieben. Als namensgebendes Vorbild für die Titelfigur suchte er sich Oisín aus, den Sohn des Fionn mac Cumhail. Inhalt der Gesänge sind episch dargestellte Schlachten und die Schicksale auserwählter edler Helden, die sich meist um die Rettung von Königreichen bemühen.).
Der singende Cheruskeranführer Tamaro mit dem Attribut Harfe wurde in der Erstaufführung nicht von einem Kastraten gesungen, sondern ist als Hosenrolle, donna musico, von der Sopranistin Feiice (Felicita) Verge (Verger, Virge) interpretiert worden.
Die Oper greift zudem die Opferthematik auf, die das heutige Opernpublikum meist nur noch von Glucks Iphigenie oder Mozarts Idomeneo kennt. In der Kerkerszene im zweiten Akt trägt Tusnelda das Opfergewand. Trompetensignale und der Topos Kerkerszene gelangten also auch nicht erst oder gar nur mit Beethovens Fidelio auf die Bühne.
Neben den Opernkonventionen, dem zeittypischen Ambiente wird bei Mayr eine private Personenkonstellation fokussiert (die Vater-Tochter-Beziehung), die kein Geringerer als Giuseppe Verdi aufgreifen wird: „Perdei la figlia“ – „Ich verlor die Tochter“ (1/4, CD 1 [4]): Coro e sortita: „Fra noi ritorni il giubilo“, vgl, weiter Finale I, II/2 2 (CD 2 31) Nr. 25 Recitativo accompagnato, (CD 2 H) Nr. 26 Duetto, M/8 Nr. 33 (CD 2 02) Recitativo accompagnato, (CD 2 03) Nr. 34 Recitativo, 11/10 Nr. 37 (CD 2 M) Recitativo accompagnato, (CD 2 071) Nr. 38 Aria, 11/11 (CD 2 H) Nr. 39 Recitativo, 11/12 (CD 2 (201 > Nr. 40, Finale M.
Mayr hatte in Rom eine Starbesetzung zur Verfügung, insbesondere hinsichtlich der wesentlichen Vater-Tochter-Konstellation. Nicola Tacchinardi spielte die Rolle des Königs Treuta. Tacchinardi spielte zunächst Violoncello im Teatro della Pergola in Florenz, bevor er als Tenor in den Opern von Ferdinando Paer, Giovanni Paisiello, Antonio Salieri, Rossini, Mayr und Mozart international brillierte. Auch als Gesangslehrer machte Tacchinardi sich einen Namen (seine Tochter und Schülerin Fanny Tacchinardi Persiani wurde 1835 die berühmte Lucia di Lammermoor, später auch die Titelfigur der französischen Version 1839). Die Sängerin Charlotte Henriette Häser, die Interpretin der Tusnelda, stammte aus einer Musikerfamilie aus Leipzig. Nach Erfolgen in Leipzig und Dresden und vor allem auch in Wien wurde sie in Italien bekannt. „Dem. Häser von Leipzig ist jetzt in Rom engagirt, und findet auch dort ausgezeichneten Beyfall“, berichtete die Allgemeine Musikalische Zeitung im März 1808. In Rom heiratete sie den Juristen Giuseppe Vera.
In I Cherusci geht es bei Mayr um die Vater-Tochter-Konstellation, um die familiäre Bindung von Treuta und Tusnelda, die als innere Entwicklungslinie die neue Oper über Politik und Zeitkolorit tragen wird. Iris Winkler (Anmerkung: Vergl. Michele Calella, I Cherusci: Mayr und Pavesi, in: Franz Hauk, Iris Winkler (Hrsg.), Werk und Leben Johann Simon Mayrs im Spiegel der Zeit. Beiträge des Internationalen musikwissenschaftlichen Johann-Simon-Mayr-Symposions, 1.-3. Dezember 1995 in Ingolstadt, Mayr-Studien 1, München, Salzburg 1998, S.69-82.)
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Dazu auch die Rezension der Aufnahme von Mattias Käther, operalounge-Lesern vertraut und rbb-Hörern in Berlin und Brandenburg wegen seiner Opernsendungen und – Kommentaren unverzichtbar: Das Schicksal der Cherusker im Kampf mit den Römern hat viele Schriftsteller und Komponisten inspiriert. Aber germanische Helden als Stoff einer italienischen Oper – das würde man nicht unbedingt erwarten. I Cherusci, eine Opera seria, uraufgeführt 1808 in Rom, ist nun auf CD bei Naxos zu haben.
Mayr war schlichtweg der wichtigste und einflussreichste europäische Opernkomponist zwischen Mozart und Rossini, ein Bayer, gründlich musikalisch ausgebildet, als junger Mann nach Italien ging. Inzwischen ist der produktive Komponist kein Unbekannter bei Klassikfans mehr und durchaus nicht nur ausgefuchsten Raritätenjägern bekannt, dank dem Label Naxos und dem Dirigenten Franz Hauk. Beide setzen sich seit Jahren erfolgreich für das Werk des hochbegabten Musikdramatikers ein.
Mayr überrascht immer wieder: Interessant an Mayr ist, dass er auch nach 200 Jahren immer noch überrascht und oft wendiger und experimentierfreudiger zu sein scheint als viele Zeitgenossen.
Der Stil der Cherusker ist verblüffend. Wir erinnern uns: Napoleonische Kriege toben 1808, alle sind ziemlich aufgeregt. Mayr komponiert eine heroische Oper für Rom, zur Karnevalszeit. Da würden wir rasselnde Märsche, krachende Chöre, die große Geste erwarten – doch diese Oper gibt sich fast schockierend intim, vermeidet fast akribisch jegliche hohle martialische Geste – die Instrumentierung hat ganz wenig Blech, fast gar keine Schlaginstrumente und bleibt trotzdem extrem farbig.
Auch die fast mozartsche Satztechnik in den Ensembles ist atemberaubend gut – manches erinnert an die Cosí, aber natürlich auch an Mayrs späteren Konkurrenten Rossini, der in Tancredi zeigt, wie viel er bei Mayr gelernt hat.
Mayr und sein Librettist Gaetano Rossi interessieren sich wenig für das Gerangel mit den Römern, sondern beschreiben Querelen von germanischen Stämmen untereinander, die sich über eine gefangene Sklavin böse zerstreiten, die den Göttern geopfert werden soll, um den Kriegsgott zufriedenzustellen. Das kann man durchaus auch als politische Botschaft lesen, die den zerstrittenen Italienern suggeriert – einigt euch, dann seid ihr stark. Rundum also ein äußerst spannendes Werk aus Mayrs bester Periode.
Hohes Niveau: Manch ein Mayr-Fan hat wohl schon nicht mehr daran geglaubt, dass Hauk sich jemals aus dem Frühwerk Mayrs lösen wird, das er fast bis zum Überdruss dirigierte. Aber vielleicht war das wichtig, um sich für die wirklich bedeutenden Sachen zu rüsten.
Das Warten hat sich gelohnt. Denn für eine Produktion, die nicht von einem großen Opernhaus kommt, sondern privat finanziert wurde, ist wird hier wirklich exzellent und zufriedenstellend gesungen. Dies ist wahrscheinlich Franz Hauks beste Produktion überhaupt. Die Sänger sind durch die Bank exzellent, Markus Schäfer als Treuta ein nobler Tenor, sowohl Yvonne Prentki als auch Andrea Lauren Brown sind exquisite und stilsichere Interpreten, auch wenn sie manchmal an ihre Grenzen kommen. Zwar kann auch diese Einspielung den Hauch des Oratorischen, Konzertanten nie ganz abstreifen – auch in dieser Aufnahme kreist wenig Theaterblut, und es fehlt das Volle, Satte, Saftige, das eigentlich in diesen Belcanto-Opern steckt, aber das sind Kleinigkeiten; im Großen und Ganzen ist das eine wirklich schöne, inspirierte, anhörenswerte Aufnahme auf hohem Niveau (mit Markus Schäfer, Yvonne Prentki, Andrea Lauren Brown, Andreas Mattersberger | Chor der Bayerischen Staatsoper | Concerto de Bassus | Frank Hauk; Naxos, 2 CD 8.660399-400). Matthias Käther
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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.