Der unsichtbare Tod

 

Das Neugeborene stößt endlich den ersten Schrei aus, derweil seine Mutter stirbt. Nachdem bislang die Streicher gespielt haben, treten zu erlösenden Schrei die Holzbläser hinzu. Das passiert am Ende des Einakters. Nach knapp 20 Minuten. Nicht länger dauert L‘ intruse (Der Eindringling), der zusammen mit Interieur und La Mort de Tintagiles (Der Tod des Tintagiles) Aribert Reimanns Trilogie Lyrique L ´invisible (Das Unsichtbare) bildet. Das hört sich komplizierter an, als es tatsächlich ist. Reimanns im Oktober vorigen Jahren uraufgeführtes Trittico dürfte es dennoch nicht leicht haben. Der Reihe nach: Bei den Stücken handelt es sich um drei Kurzdramen, die zu dem Werkkomplex der zwischen 1889 und 1899 erschienenen zehn frühen Dramen von Maurice Maeterlinck gehören. Also aus dem genauen zeitlichen Umfeld von Pelléas et Mélisande (1893). Auch in L‘ intruse, wie in den beiden anderen Einaktern, wird die einfache Handlung durch eine schlichte, vieldeutig raunende Sprache geheimnisvoll und symbolistisch überhöht. Die Familie sitzt zusammen. Im Nebenzimmer ringt eine Frau, die kürzlich ein Kind zur Welt gebracht hat, mit dem Tod. Das Baby hat noch kein Lebenszeichen von sich gegeben. Einzig der Großvater spürt die Ankunft eines für den Rest der Familie Unsichtbaren, dann gibt das Kind seinen ersten Schrei von sich und die Mutter stirbt. Der nur vom blinden Großvater wahrgenommene Unsichtbare, der Tod, ist auch in den beiden anderen Stücken präsent, weshalb der Übertitel L‘ invisible (Das Unsichtbare) gut gewählt ist.

Raffiniert ist nicht die inhaltliche Schicksals-Todes-Klammer – im zweiten Stück geht es um ein Mädchen, das ins Wasser ging, und im dritten um den Jungen Tintagiles, den seine Schwestern nicht davor bewahren können, dass eine übermächtige Königin ihn in den Tod treibt – sondern Reimanns kompositorisches Geschick, das die Stücke umfasst. Die Orchesterbesetzung, Streicher für L‘ intruse, Holzbläser für L‘ intérieur und eine verstärkt dialogisierende Besetzung in Tintagiles, wird ausgesprochen raffiniert eingesetzt. Dazu gehören auch die drei Interludien nach L‘ ‚intruse und Interieur sowie zwischen dem zweiten und dritten Akt von Tintagiles – Akt hört sich gewaltig an, denn alles in Allem dauert L‘ invisible keine 90 Minuten. Und wenn wir schon von Raffinement sprechen, müssen auch die Harfen begleiteten Dienerinnen der Königin genannt werden, die erstmals im ersten Interlude auftauchen. Es sind drei, Countertenören zugeteilten Dienerinnen, mit deren Besetzung Aribert Reimann in seiner neunten Oper an den von David Knutson kreierten Edgar in Lear anknüpft, womit er – nach Brittens Oberon – sozusagen eine Tür für die Stimmgattung aufgestoßen hat, da keine zeitgenössische Oper seither ohne avancierten Einsatz eines Countertenors auskommt. Raffiniert und behutsam wie kostbare Einlegearbeit breitet Reimann seine Klänge aus, die zusammen mit der offenbar eindringlichen Inszenierung den Erfolg der Aufführung an der Deutschen Oper besiegelte, die schon mehrfach eine Uraufführung für Reimann ausgerichtet hatte (Melusine, Die Gespenstersonate, Das Schloss). Töne und Klänge so geheimnisvoll und erlesen, so leise und behutsam, dass die Gestalten sich wie im Umkreise von Allemonde kaum heftig aufzutreten und laut zu werden trauen. Das Schweigen erhält seinen Klang. Der Mitschnitt der Uraufführungsserie kann die musikalische Kostbarkeit retten, das Faszinosum der Musik vermitteln, das Wispern und Flüstern der Töne, die mehr andeuten als sagen, doch nicht das Theaterereignis einfangen, das offenbar erst durch die Inszenierung komplett wurde (Oehms Classics OC 973 2 CDs). Angefangen von den Schlägen und dem Zupfen der Kontrabässe kann Donald Runnicles diese geheimnisvollen Klangtupfer wunderbar zum Blühen und Zirpen bringen. Mit dem Orchester der Deutschen Oper, das nur in wenigen Abschnitten als Tuttiklang in Erscheinung tritt, zaubert er sublime Andeutungen und biegsame Klanggesten. Unter den Solisten, die durch Zwei- und Dreifachbesetzungen die Stücke verbinden, ragt in allen drei Teilen auf Anhieb Rachel Hanischs damenhaft eleganter und beweglich aufblühender Sopran heraus. Thomas Blondelle singt vor allem den Fremden in Interieur mit ausdrucksvoll schönem Tenor und der Souplesse eines Pelléas. Seth Carico kann sich als Vater möglicherweise nicht so entfalten, wie es sein Bariton nahelegt, relativ alert singt Stephen Bronk die drei Großvater und Altenrollen. Tim Sever loh, Matthew Shaw und Martin Wölfel, alle drei im Barocken wie Modernen zuhause, geben die Dienerinnen.   Rolf Fath