Wer Opern-Fan ist, dem muss Australien sympathisch sein, immerhin ist es gerade die Oper, das Sydney Opera House, das das bekannteste Gebäude eines ganzen Kontinents und ein architektonisches Wahrzeichen wie bspw. Tower Bridge, Eiffelturm, Freiheitsstatue und Brandenburger Tor geworden ist. Australische Sänger findet man inzwischen auch an vielen bundesdeutschen Opernhäusern, doch wie ist es eigentlich um das Musikleben Down Under bestellt? Die vorliegende CD von Glucks Iphigenie en Tauride des australischen Labels Pinchgut LIVE hat einiges Interessante zu bieten, beginnend mit der Erkenntnis, dass es in Sydney die Pinchgut Opera gibt, die sich auf Barock und Frühklassik konzentriert und in der City Recital Hall auftritt. Seit der Gründung hat man Pionierarbeit für frühe Opern in Australien geleistet und 16 Werke produziert: Händels Semele (2002), Purcells The Fairy Queen (2003), Monteverdis Orfeo (2004), Rameaus Dardanus (2005), Mozarts Idomeneo (2006), Vivaldis Juditha Triumphans (2007), Charpentiers David et Jonathas (2008), Cavallis Ormindo (2009), Haydns L’anima del filosofo (2010), Vivaldis Griselda (2011), Rameaus Castor et Pollux (2012), Cavallis Giasone (2013), Salieris Rauchfangkehrer (2014), Glucks Iphigénie en Tauride (2014), Vivaldis Bajazet (2015) und Grétrys L’amant jaloux (2015). Haydns Armida und Händels Theodora stehen 2016 auf dem Plan der Pinchgut Opera. Ein ambitioniertes Programm, das auch jedem deutschen Opernhaus sehr gut zu Gesicht stehen würde. Seit 2014 wagt man sich an zwei jährliche Produktionen, ein Zeichen für Popularität und geschickte Vermarktung – man hat stets auch Radioübertragungen organisiert und fast alle Opern auch auf CD eingespielt, zuerst bei ABC Classics, seit wenigen Jahren hat man ein eigenes Label Pinchgut LIVE.
Das größte Plus dieser australischen Rarität ist das Originalklang-Orchester: das Orchestra of the Antipodes, das seit 2004 für Pinchgut spielt und auch in Konzerten auftritt bzw. bereits einige CDs einspielt hat, u.a. mit Händels Messiah, Duette und Arien von J.S. Bach sowie dessen Brandenburgische Konzerte oder Mozarts Requiem. Es setzt sich aus Musikern zusammen, die weltweit in bekannten Ensembles gespielt haben, u.a. bei Les Arts Florissants, dem Orchestra of the Age of Enlightenment, der Academy of Ancient Music, Florilegium, The English Concert, Il Giardino Armonico, Les Talens Lyriques und dem Venice Baroque Orchestra. Man bedient sich sowohl historischer Nachbauten als auch Originalinstrumente, das Programmheft enthält eine Liste mit Ursprung und Baujahr aller verwendeter Instrumente. Das Orchestra of the Antipodes und sein Dirigent Antony Walker (der übrigens auch künstlerischer Leiter der Pinchgut Opera und der Washington Concert Opera sowie Musikdirektor der Pittsburgh Opera ist) spielen flexibel auf der Höhe der Originalklang-Zeit, rhythmisch effektvoll, aber nicht so farbenreich und differenziert wie bspw. in der Referenzaufnahme von Marc Minkowski. Die Balance der Aufnahmeakustik ist allerdings auch nicht optimal, man hört nicht plastisch, sondern flächig in den Orchestergraben, die Live-Aufnahme einer Bühnenproduktion aus der City Recital Hall hat hörbar nicht optimale Voraussetzungen. Sängerisch hört man eine ordentliche und gute Leistung, die auch in einem großen europäischen Opernhaus ein Erfolg wäre.
Die australische Mezzosopranistin Caitlin Hulcup überzeugt mit warmer, voller Stimme als psychisch verwundete Iphigenie, bemerkenswert gut gelingen ihr sowohl die stimmlich zarten und klagenden Farbgebungen als auch die hochdramatischen Ausbrüche, sie zeigt etwas weniger expressive Qualität als bspw. Mireille Delunsch in Minkowskis Einspielung, aber das mag dem Live-Charakter geschuldet sein. Der australische Bariton Grant Doyle singt beeindruckend den gequälten Orest mit verzweifelt-nobler Stimme, die Illusion des „Le calme rentre dans mon coeur“ überzeugt bspw. durch feine Modellierung. Der dunkle Bassbariton von Christopher Richardson in der Rolle des Thoas klingt dramatisch, dem Rollenportrait fehlt dennoch der stimmliche Nachdruck. Der britische Tenor Christopher Saunders singt einen sehr lyrischen Pylade, dem man
gelegentlich mehr Durchsetzungskraft und stimmliche Entschlossenheit wünschen würde. Rollengerecht überzeugt auch Margaret Plummer in der Doppelrolle als 1. Priesterin und Diana. Dirigent Antony Walker ist auch Mitbegründer des Chors Cantillation, der bereits seit 2002 Pinchgut begleitet und sich hier als stimmlich agiler und flexibler Partner erweist. Zusammengefasst eine gute Wiedergabe einer musikalisch spannenden Aufführung. Wer in Australien Urlaub macht und Oper nicht vermissen will, sollte sich vorab nicht nur im Internet über den Spielplan der Sydney Opera informieren, sondern auch die Auftritte der Pinchgut Opera oder des Orchestra of the Antipodes im Blick haben. (2 CDs, ca. 111 Minuten, Pinchgut LIVE, PG006). Marcus Budwitius