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„Geschmeidig und unschlüssig“ wollte Claude Debussy seine Musik für seine einzige Oper Pelléas et Mélisande, die „zarten Reibungen der Seele“ und „launenhafte Träumereien“ sollte sie ausdrücken können, „sie muss aus dem Dunkel kommen“ und sie sollte ganz und gar nicht an Richard Wagner erinnern. In einem überaus informationsreichen Booklet, das auch ein Interview mit dem Dirigenten der Aufführung enthält, wird der Hörer profund in das Werk eingeführt, und es wird ihm erklärt, warum die Aufnahme mit Originalinstrumenten aus der Kompositionszeit erfolgte. Überprüfen kann er dann, ob die angestrebten harmonischen Finessen tatsächlich in dieser Besetzung eher zu erreichen sind als mit einer der herkömmlichen Art. Bei den Streichern besteht der größte Unterschied darin, dass Darmsaiten benutzt wurden, so dass das Vibrato wesentlich feiner ausfällt, die Stimmen mehr zur Geltung kommen und generell der Eindruck einer ausgeprägteren Durchsichtigkeit entsteht.
Die Aufnahme entstand 2021 durch die Opéra de Lille, also zu Corona-Zeiten und demnach in leerem Saal, es spielt das Orchester Les Siècles unter Françoise-Xavier Roth. Mit den ersten Taktes fällt die ungewöhnliche Transparenz des Klangbildes auf, eine große Farbigkeit trotz des Filigranen, die zu einer besonders dichten Atmosphäre insbesondere in den Vor-und Zwischenspielen führen und die die Sängerstimmen tatsächlich besonders präsent erscheinen lassen.
Der Dirigent hält Golaud für „die menschlichste Figur“, und die findet in Alexandre Duhamel einen adäquaten Vertreter mit nicht liebenswürdigem, aber doch zunächst Vertrauen erweckendem Timbre, mit erstklassiger Diktion, im ersten Akt durchaus zärtlichen Zügen, ehe zunehmend Bedrohlichkeit sich vernehmbar macht, immer wieder, so in den Szenen mit Yniold, zu Sanftheit gebändigt. Auch der Tenor Julien Behr lässt seinen Pelléas eine vokale Entwicklung durchmachen, gewinnt nach recht trocken klingendem Beginn zuhörens an vokaler Präsenz und damit an Farbe, erfreut durch empfindsamen Sprechgesang und glänzt im vierten Akt durch eine emphatische Zärtlichkeit in der Stimme. Tiefdunkel und archaisch lässt sich der Arkel von Jean Teitgen vernehmen, während Marie-Ange Todorovitch eine sanfte, recht hell klingende Geneviève ist. Angstflatternd mädchenhaft beginnt Vannina Santoni als Mélisande, facettenreich und voller vokaler Süße und mit einer Liebeserklärung im doppelten „Pelléas“, ehe das letzte „la veritè“ auch noch ein Geheimnis zu bergen scheint. Bewundernswert ist es, wie das Kind Hadrien Joubert die wortreiche Partie des kleinen Yniold meistert. Damien Pass und Mathieu Gourlet vervollständigen das Ensemble als Arzt und Hirte. Pelléas et Mélisande kann sehr lange dauern- diese Aufnahme lässt keinen Gedanken daran aufkommen, ist spannend vom ersten bis zum letzten Ton (harmonia mundi 905352.54). Ingrid Wanja