Anglophiles

 

Wenn neunzig Jahre nach dem Tod eines Komponisten bereits die zweite CD mit seinen Liedern als „Welt-Ersteinspielung“ auf den Markt gelangt, dürfte Interesse geweckt sein. Die Rede ist von Anton Beer-Walbrunn, der am 29. Juni 1864 in Kohlberg in der Oberpfalz geboren wurde und am 22. März 1929 in München starb. Obwohl sein Vater die musikalische Begabung des Sohnes erkannte und förderte, nötigte er ihn aber, den Lehrerberuf zu ergreifen. Erst nach dessen Tod konnte Beer, der sich später den Doppelnamen aus dem familiären Umfeld zulegte, musikalische Studien aufnehmen. Sie führten ihn zu Joseph Rheinberger nach München, wo er selbst von 1901 an Klavier, Musiktheorie und Komposition an der Akademie der Tonkunst lehrte. „1908 wurde Beer-Walbrunn durch Prinzregent Luitpold von Bayern mit dem Titel eines königlichen Professors ausgezeichnet“, berichtet Martin Valeske im Booklet der CD, die bei Bayer Records (BR 100 395) erschien. Zwischen den Liedern werden die „6 Reisebilder für Klavier solo“ op. 21 platziert. Darauf bezieht sich auch der Titel der CD, nämlich Reisebilder.

Inwieweit der Komponist dabei aus eigenem Erleben schöpft, ob er viel und häufig unterwegs war, dazu gibt es im Booklet keinen Hinweis. Vielmehr ziehen die Lieder inhaltlich eher kleine Kreise, handeln – um nur drei Beispiele zu nennen – vom „Einsiedler“, den „Abgeschiedenen“ oder „Des Knaben Berglied“ (alle nach Uhland). Obwohl Klavierstücke und Lieder musikalisch ihre Wirkung nicht verfehlen und vortrefflich ausgearbeitet sind, können und wollen sie ihr akademische Herkunft nicht ganz verleugnen. Als spräche der Lehrer zu seinen Schülern: Schaut her, so wird komponiert! Die Solistin Angelika Huber wird von Lauriane Follonier, die auch die „Reisebilder“ spielt, begleitet. Es ist nicht zu überhören, dass sich beide Frauen intensiv mit Beer-Walbrunn beschäftigt haben. Sie agierten sehr sicher. Sängerisch hätte ich mir aber etwas mehr Lockerheit gewünscht. Besonders in den hohen Lagen klingt es sehr angestrengt. Letztlich werden die Hörer Zeugen der Entschlossenheit, den Komponisten dem Vergessen zu entreißen. Völlig unangebracht hingegen ist ein langes Zitat im Booklet aus dem „Völkischen Bobachter“ vom 22. April 1944, womit verdeutlicht werden soll, dass Beer-Walbrunn auch lange Jahre nach seinem Tod wertgeschätzt worden sein muss. Unter Bezugnahme auf ein Konzert heißt es darin: „Im Grunde Lyriker, schreibt er einen harmonisch farbigen, melodisch reichen Satz und erweist sich in seinen Werken, die alle als der natürliche Ausdruck seines gesunden, ursprünglichen Musikertums unmittelbar ansprechen, als Meister der Form.“ Der „Völkische Beobachter“ war das Parteiorgan und Kampfblatt der NSDAP.

 

Wer, bitte schön, war Johann Georg Gerhard Schmitt? Nie gehört? Also dann die Frage nach Georges Schmitt. Beide sind ein und dieselbe Person, am 11. März 1821 in Trier geboren und am 7. Dezember 1900 in Paris gestorben. Schmitt war ein deutsch-französischer Komponist, der quasi auf der Grenze zwischen beiden Nachbarländern lebte und wirkte und diesen Umständen auch seinen Vornamen anpasste. Aus seiner Heimatstadt, wo er als Domorganist in künstlerische Auseinandersetzungen mit der Kirchenleitung verstrickt gewesen ist, floh er nach Paris. Unterbrochen von einem mehrmonatigen Aufenthalt in der amerikanischen Stadt New Orleans, wo er als Organist tätig war. Er wollte die Kirchenmusik von weltlichen Einflüssen befreien und wieder ihrem eigentlichen Zweck zuführen. Sein wichtigstes Streben, in der französischen Metropole als erfolgreicher Opernkomponist zu reüssieren, blieb unerfüllt. Sein Opéra comique La belle Madelaine und mehrere Operetten gerieten trotz des zeitweiligen prominenten Beistandes seines Kollegen Offenbach in Vergessenheit. Einzig durch das Mosellied „Im weiten deutschen Lande“ und die „Sehnsucht nach dem Rhein“ ist Schmitt in jenen Kreisen, die dieses gefällige Genre pflegen, noch ein Begriff.

Der deutsch-französische Komponist Georges Schmitt/ Foto Wikipedia

Jetzt hat das Trio Cénacle einen Anlauf genommen, den Komponisten wieder ins Gespräch zu bringen. Das 2015 gegründete Trio besteht aus der deutschen Sopranistin Evelyn Czesla, dem niederländischen Bassbariton Nico Wouterse und der luxemburgischen Pianistin Michèle Kerschenmeyer. Ihre CD mit Mélodies, Romances und Chansons von Schmitt ist bei Profil Edition Günter Hänssler erschienen (PH18042). Der Name des kleinen Ensembles bezieht sich nach Informationen aus dem Booklet, auf „Le Cénacle de Victor Hugo“ – eine „wechselnde Gruppe von Schriftstellern, die sich Ende der 1820er Jahre im Hause Victor Hugos regelmäßig trafen“. Ohne die Vorarbeit des Musikwissenschaftlers Wolfgang Grandjean, der auch selbst komponiert, wäre das Projekt undenkbar. Er gilt als Schmitt-Experte, hat die Lieder-Sammlung herausgegeben, eine Biographie geschrieben und die nur als Manuskript überlieferte Chorsymphonie „Le Sinai“ editiert, die 2014 in der Geburtsstadt Schmitts wiederaufgeführt wurde. Auf Texte von Hugo gehen denn auch zwei Kompositionen zurück. Mit Goethe und seinem Lied von der Ratte – hier als „La Chanson du rat“ aus Faust – ist nur ein deutscher Dichter vertreten. Der Analyse von Grandjean, dass Schmitt diese Verse mit einer „nahezu opernhaften Musik“ ausstattet, die der Bariton vorträgt, ist treffend. So eingängig sind die anderen Stücke nicht. Wie sich Solisten und der Pianistin, die mit der „Arabesque sur la Violette“ sogar ein Solo hat, auch bemühen, die Lieder haben nicht die Raffinesse und die Eleganz, mit der gebürtige französische Komponisten Sprache und Musik eins werden lassen.

 

Von Frankreich ist es nur ein Sprung über den Ärmelkanal nach England, wo Hubert Parry (1848-1918) wirkte. Seine Werke – darunter die fünf Sinfonien – liegen in diversen Einspielungen vor. Seine ungebrochene Popularität im englischen Sprachraum beruht jedoch auf der Hymne „Jerusalem“ nach einem Gedicht von William Blake, das auf der Legende beruht, Jesus habe einst auch englischen Boden betreten. Sie hat sich als inoffizielle Nationalhymne der Briten etabliert und wird gern zum Ausklang der Proms-Konzerte in der Royal Albert Hall angestimmt. Somm Recordings widmet sich dem Liedschaffen und ist mit seiner entsprechenden Edition bereits bei Volume III angelangt (SOMMCD272). Die Sopranistin Sarah Fox und der Bariton Roderick Williams werden am Flügel von Andrew West begleitet. Mit perfekter Diktion nähern sich die beiden Muttersprachler den lyrischen Gesängen, in denen das Lied einer Amsel genauso melancholisch besungen wird wie die Stimmung in der Dämmerung. Man fühlt sich gar an Richard Strauss erinnert, der diesen mitunter sehr alltäglichen Erfahrungen auch diesen lyrischen Ausdruck verleihen konnte.

 

In der Céleste Series hat Somm Recordings Lieder von Eric Coates folgen lassen (SOMMCD 0192). Der 1886 geborene und 1957 gestorbene Komponist wird der so genannten leichten Musik zugerechnet. Er fühlte sich keinem Genre besonders verbunden, hinterließ diverse Orchesterstücke, darunter Walzer und Märsche. Sein eingängiger Stil kennzeichnet auch die 160 Lieder, die Coates hinterlassen hat. Mitunter klingen – wie bei Parry – Ähnlichkeiten mit seinem Zeitgenossen Richard Strauss an. Als Interpretin wurde die aus Liverpool stammende junge Mezzosopranistin Kathryn Rudge gewonnen. Christopher Glynn begleitet sie am Flügel. Sie hat eine facettenreiche üppige Stimme. Eine gewisse Schärfe in der Höhe setzt sie geschickt als gestalterische Mittel ein. Das passt genau. Es macht viel Spaß, ihr zuzuhören.

 

Ein weiterer Beleg für die Vielseitigkeit, die auf dem aktuellen Musikmarkt vorherrscht, sind Kammermusik und Lieder Ernst Kreneks (1900-1991) bei Toccata Classics (Tocc 0295). Dafür haben sich mit Laura Aikin (Sopran), Bernarda Fink (Mezzosopran) und Florian Boesch (Bariton) gleich drei namhafte Solisten zur Verfügung gestellt. Sie werde vom Ernst Krenek Ensemble begleitet. Dieser österreichische Komponist, der 1938 in die USA emigrierte und dort bis zu seinem Tod blieb, ist nichts für Nebenbei. Er zwingt sein Publikum, genau zuzuhören. Zumal in den zur Rede stehenden Stücken, die in ihrer Mischung etwas willkürlich zusammengestellt wirken. Auf die an Bach erinnernde Doppelfuge für zwei Klaviere folgen drei zu einem kleinen Zyklus gefügte Lieder nach Gedichten des belgischen Dichters Èmili Verhaeren, der in französischer Sprache schrieb und dem Symbolismus zugerechnet wird. Laura Aikin singt sie mit innerer Erregung. Den Übergang zum nächsten, dem einzigen deutschsprachigen Titel „Während der Trennung“, bildet die Trio Phantasie für Violine, Cello und Piano. Hier ist die Abfolge sehr gut geglückt. Die Phantasie wirkt wie eine Einstimmung auf das als Duett angelegte expressive Vokalstück, in den ein Paar in seiner Trennung die Liebe erkennt. „Mein Herze, das sich itzt so quält, hat Dich und keine sonst gewählt.“ Herze? Itzt? Das Gedicht stammt von Paul Fleming, dem 1609 im sächsischen Städtchen Hartenstein geborenen und 1640 in Hamburg gestorbenen Arzt und Schriftsteller, der als einer der bedeutendsten Lyriker des deutschen Barock gilt. In der Vertonung durch Krenek und in der Interpretation von Bernarda Fink und Florian Boesch offenbart sich der moderne und zeitlose Ansatz seiner Dichtung. Rüdiger Winter